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Wenn Romantik-Forscher:innen ins Romantik-Museum fahren
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Nach über zehn Jahren Bau- und Planungszeit, der erwartungsvollen Beobachtung aus der Ferne, dem Wegfall der Finanzierung, dem Beweis einer Kraftanstrengung der Bürgerschaft, hat es sich nun materialisiert und ragt neben dem Frankfurter Goethe-Haus auf. Mit einem blauen Winkel als Aushängeschild begrüßt unsere Gruppe von Kollegiat:innen das Deutsche Romantik-Museum.
Im Foyer steht die freigelegte Bruchsteinwand des Goethe-Hauses einer hoch aufragenden Bücherwand gegenüber. Literaturwissenschaftliche Lexika, Reclam-Bändchen, Werkausgaben sind erkennbar. Bevor sich angesichts der stiefmütterlichen Behandlung der kaum zugänglichen Bibliothek Empörung regen kann, erläutert uns die Direktorin Professor Dr. Anne Bohnenkamp-Renken, dies sei der Nachlass eines Deutschlehrers. Als so geordnetes Ensemble erworben, stehe die Büchersammlung für eine Lesebiographie und auch für die vielen heutzutage überflüssig gewordenen Bücherkonvolute. Wolle man genauer wissen, welche Werke sich dort oben befänden, so Bohnenkamp-Renken, können man sich des Teleskops am anderen Ende des Foyers bedienen. Ein Erstaunen über die originelle Idee geht durch die Gruppe.
Auf diese Weise willkommen geheißen beginnen wir den Rundgang durch das Haus. Zunächst dürfen wir die Wechselausstellung bestaunen, die der ehemalige Kollegiat unseres Graduiertenkollegs Raphael Stübe kuratierte. Diese Ausstellung veranschaulicht das digitale Projekt RÊVE (Romantic Europe: The Virtual Exhibition). Schon hier werden Auge und Körper angesprochen: Kommt man die Treppe hinunter, leuchten einem die orangenen Konturen Europas auf dem Boden entgegen. Die Halle taucht uns in Schwarzlicht, sofort möchte man Europa betreten; mithilfe von Smartphones und einem QR-Code können die Objekte aufgerufen werden.
Im Garten des Hauses, der wild-romantische sowie parkähnliche Elemente enthält, erläutert uns Anne Bohnenkamp-Renken den Aufbau des Romantik-Museums. Die Ausstellungsobjekte seien zwar chronologisch geordnet, aber beim Erkunden der Stationen sei keine Reihenfolge vorgegeben. Vielmehr sollen die Besucher:innen die Ausstellung als gleichsam romantisch Suchende erleben. Schwerpunkt der Ausstellung seien die literarischen Dokumente und Handschriften der Sammlung des Freien Deutschen Hochstifts. Diese würden in „Schatzkästchen“ präsentiert, die die Besucher:innen aufklappen können: An Schreibpulte erinnernde Kästen würden die konservatorischen Vorgaben der lichtempfindlichen Dokumente sichern. Zwei rote Fäden würden das Museum durchziehen, erklärt Anne Bohnenkamp-Renken weiter: zum einen Zitate Heinrich Heines, der nicht explizit ein Romantiker genannt werden kann, dessen Schrift Die Romantische Schule doch der Bericht eines sympathisierenden Zeitgenossen ist; zum anderen eine Tonspur mit romantischen Musikstücken, die per QR-Code angesteuert werden kann.
Der erste Weg im Museum führt über die Goethe-Galerie in die erste Etage. Dort sind Gemälde untergebracht, die das Freie Deutsche Hochstift mit Bezug auf Goethe sammelt und vormals im Goethehaus zeigte. Sie bilden einen thematischen und räumlichen Übergang zwischen dem angrenzenden Goethehaus und dem Romantik-Museum. Überhaupt habe das Kuratoren-Team versucht, immer wieder Verbindungen zwischen Goethe und der Romantik herzustellen, beispielsweise durch Fensterausblicke auf das Goethehaus oder durch die letzte Station, die sich mit Robert Schumanns Faust-Vertonung befasst.
Über die „Himmelstreppe“, die sich nach oben hin verjüngt, um so einen verlängernden Eindruck zu gewinnen, gelangen wir in die erste der beiden „romantischen“ Etagen. Man gelangt in einen „Spiegelwald“ voll prismenförmiger Säulen. Hier stocken geübte Museumsgänger:innen, denn es finden sich keine Pfeile oder Wegweiser, in welche Richtung oder bei welcher Station der Besuch zu beginnen sei. Der Blick fällt auf das Wort „Suchbewegung“ im Einführungstext an der Wand und man begreift, dass man sich der Ausstellung nur mäandernd aussetzen kann.
Das Museum ist mit räumlichen Abtrennungen, klugen Formen und haptischen Stationen gestaltet. So wird beispielsweise das Konzept „Waldeinsamkeit“ stimmig in eine zwitschernde, illusionierende Nische verwandelt, wird einem der Liebesbrief von Clemens Brentano an Karoline von Günderrode in der Intimität einer schallgeschützten Kammer zugeraunt, führt eine abgerissene Treppe in den geheimnisvollen Dachboden der Erzählung E.T.A. Hoffmanns. Von Multimedia wird zweckmäßig Gebrauch gemacht. Dies ermöglicht es, die Ausstellung nach romantischem Vorbild mit allen Sinnen und auf eigene Faust zu erkunden.
Mit den mannigfaltigen Stationen zum Mitmachen, Anfassen und staunendem Anblicken wird die Adressierung an verschiedenste Zielgruppen und Wissensbedürfnisse umgesetzt. Es gibt einen Touchscreen, der die Lebenswege vieler Romantiker:innen um 1800 nachvollziehen lässt, dann wiederum betritt man ein Schachbrett mit überdimensionierten Schachfiguren. Im oberen Geschoss sind die Besucher:innen eingeladen, sich an einer Schreibmaschine an der Übersetzung romantischer Gedichte zu versuchen, überall gibt es Postkartenporträts der Romantiker:innen zum Mitnehmen. Oben erlaubt das „Handschriftenstudio“ einen Blick auf neu erworbene oder wieder aus dem Magazin geholte Handschriften.
Nachdem wir uns einen Überblick über das Museum verschaffen durften, beginnt in Gruppenarbeit die vertiefende Phase der Exkursion. Jede Gruppe nimmt eine Station genauer unter die Lupe. In der Plenumsbesprechung fällt oft das Wort „immersiv“; jede einzelne Station lässt die Besucher:innen tief in die Welt der Romantik eintauchen. Ein Kollegiat resümiert: „Man kommt mit mehr Fragen heraus, als man hineingegangen ist.“ Anne Bohnenkamp- Renken entgegnet: „Wir wollten den Erklärmodus nicht übertreiben.“ Man solle selbst entdecken, sich der Romantik ausliefern, sich ein eigenes Bild dieser komplexen Epoche machen. Diesem Gedanken entspreche auch, dass es zurzeit keinen Katalog der Ausstellung gebe, sondern von Wissenschaftlern verfasste Begleithefte zu einzelnen Stationen. „Etwas Geschlossenes wollten wir verhindern“, so die Kuratorin. Aus erster Hand bekommen wir auch Einblick in den kuratorischen Prozess: an welchen Stellen das Museum noch unfertig ist, die Überlegungen gestockt haben, hitzig diskutiert wurde, wo Änderungen vorgenommen wurden. Schließlich spricht Anne Bohnenkamp-Renken dem Kolleg gegenüber eine Einladung aus, über eine temporäre Ausstellung zum „Modell Romantik“ nachzudenken.