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Romantik in der Praxis V: Volksmärchen neu interpretieren – Die Brüder-Grimm-Festspiele in Hanau
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In der Brüder-Grimm-Stadt Hanau finden jedes Jahr zwischen Mai und Juli die Brüder-Grimm-Festspiele statt. Mit derzeit ca. 80.000 Besuchern pro Saison gehören die Hanauer Festspiele zu den größten Freilichtspielen in Hessen. Die Geschichte der Festspiele fand ihren Anfang im Jahr 1985, dem 200. Geburtsjahr von Jacob Grimm, mit der Aufführung der von den Grimms gesammelten Kinder- und Hausmärchen am Hanauer Amphitheater des historischen Parks von Schloss Philippsruhe mit seiner romantischen Umgebung. Die Philosophie der Festspiele besteht darin, die Botschaften der alten Volksmärchen für das heutige Publikum zugänglich zu machen. Die Wirkung liegt vor allem im psychologischen Bereich: Selbst in ausweglos erscheinenden Situationen können „Realitäten“ durch den unerschütterlichen Glauben an ein gutes Ende verändert werden. Die Märchen fördern Empathie, Akzeptanz und Respekt gegenüber Menschen, die anders sind oder aus anderen sozialen Verhältnissen kommen. Die Grimmschen Märchen sind somit eine Quelle der Inspiration und ein Appell zur Förderung von Toleranz und Vielfalt in der Gesellschaft. Mit der diesjährigen Saison, die hauptsächlich unter dem Motto ‚Hoffnung‘ stand, feierten die Festspiele ihr 40. Jubiläum.
Die Auswahl der vier zu spielenden Märchen erfolgte zum Teil auch aus wirtschaftlichen Gründen. Die Märchen Sterntaler und Die Gänsemagd wurden aufgrund ihrer Darstellung des Motivs der ,Hoffnung‘ ausgewählt; Der gestiefelte Kater und Romeo und Julia vor allem aufgrund ihrer Bekanntheit. Die Attraktivität des Festivals sowie die Besonderheit der Aufführungen spiegeln sich auch in der Bühne wider, die für jede Saison neu gestaltet wird. Die Interpretation und Inszenierung der Märchen durch Autor:innen und Regisseur:innen erfolgt mit Blick auf die Gegebenheiten der Bühne, da die vier verschiedenen Märchenstücke auf derselben Bühne gespielt werden. Die Interpretationsarbeit, die die Grundlage des gesamten Festivalprojekts bildet, verdient besondere Aufmerksamkeit. Um dies herauszustellen, habe ich ein Interview mit Jan Radermacher, einem der Autoren, geführt. Zusammen mit Timo Riegelsberger hat Radermacher das Volksmärchen Sterntaler neu interpretiert und inszeniert. Die Probeaufführungen habe ich während meines Praktikums mitbetreut. Im Märchen geht es um den Glauben an das Fantastische und die Hoffnung auf Wunder.
Dabei vermittelt das Märchen von Sterntaler bestimmte Bilder, auf denen die Neuinterpretation aufbaut, nämlich das Schenken bzw. Geben, die Sterne im Himmel, die Natur und das Füreinander-Einstehen. Die emotionsgeladene Geschichte zieht die Zuschauer von Anfang bis Ende in ihren Bann. Die Autoren kreierten dafür das Wort „phantaforisch“, um auf den Fantasiegrad des Märchenstücks mit den damit einhergehenden Gefühlen zu verweisen. Radermacher und Riegelsberger beschreiben es im Drehbuch wie folgt: „Denn wenn etwas so viel fantastischer ist als fantastisch und man sich dadurch viel euphorischer fühlt als euphorisch, so dass alle bekannten Worte nicht mehr ausreichen, um diesen Zustand zu beschreiben, dann ist es phantaforisch.“ Die Neuinterpretation beginnt mit der hermeneutischen Auseinandersetzung des Autors mit dem Märchen bzw. den vom Märchen vermittelten Bildern, wobei nicht nur seine Lebenserfahrungen, sondern auch seine Fantasie mit ins Spiel kommen. Die Umdeutung ging von der Frage aus, wie und warum ein armes Mädchen alles verschenkt. Die Eltern (Arthur und Fanny Brillancoeur) von Mina (dem armen Mädchen), ihre Tanten (Ernerstine und Hedwig Knoblauch), die Kerzenfabrik von Oswald Hammerwurf Grütz, die Ordnungshüterfigur der großen Stadt Wachtmeister Butterbirne zum einen; die Reise von Minas Eltern, die Raubgier ihrer Tanten und die gesammelten Sterne zum anderen, die ins Archiv der verlorenen Träume zu bringen sind, sind von den Autoren Jan Radermacher und Timo Riegelsberger geschaffene Figuren, Gelegenheiten und Umschwünge, die die Bilder des Märchens bei der Inszenierung unterstützen. Eine Besonderheit der Inszenierung, die die Wahl des Märchens im Zusammenhang mit dem Saison-Motto ,Hoffnung‘ und den romantischen Charakter der Interpretation offenbart, ist der Traum und die Hoffnung, die damit verbunden ist. Traum und Hoffnung sind in die „höchst kolossalen und phantaforischen Geschichten“ bzw. Szenen eingebettet, die das Leben von Mina strukturieren und bestimmen. Mina hat nicht an das Zugunglück ihrer Eltern geglaubt, sondern hat fantasiert, dass Letztere den Zug ein paar Sekunden vor dem Unglück verlassen hätten. Dieser Traum- und Hoffnungsgedanke verleiht dem Stück bzw. der Inszenierung einen ambivalenten Charakter. Ziel ist es, die Menschen (und die Zuschauer im Kontext der Darstellung) wieder dazu zu bringen, „an ihre Träume zu glauben“, während sie gleichzeitig erkennen, dass nicht jeder Traum Wirklichkeit werden kann. Mina selbst wird sich dessen bewusst, als sie endlich dort ankommt, wo sie Port Etoile vermutet hat, und erkennt, dass alles nur ein Produkt ihrer Einbildung war.
Das Familienstück Sterntaler wurde in den hessischen Zeitungen vor allem wegen seines „phantaforischen“ Charakters rezipiert. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 03.06.2024 spricht Luise Glaser-Lotz beispielsweise von der phantaforischen Welt der Sterntaler und weist auf das Zerfließen der Grenzen zwischen Fantasie und Wirklichkeit hin. Roland Bauernschubert bezeichnet das Stück in der Fuldaer Zeitung vom 05.06.2024 als eine „phantaforische“ Reise. Katrin Stassig hebt in der Hanauer Anzeige vom 03.06.2024 die Schlussszene von „Sterntaler“ hervor, in der das kleine Mädchen Mina die Träume der Menschen einfängt und ihnen damit ihre Hoffnung zurückgibt.
Mein Praktikum bei den Brüder-Grimm-Festspielen in Hanau hat mir vor allem viele fachliche Erfahrungen ermöglicht, die von der Dramaturgie bis hin zur Regiehospitanz reichen. Was mich besonders fasziniert hat, ist die Neuinterpretation und Dramatisierung von Märchen, die dazu beitragen, zeitgenössische menschliche Zustände zu kontextualisieren und zu reflektieren. In meiner Praxiszeit habe ich gelernt, dass das Theater ganz unterschiedliche, spannende Arbeitsfelder anbietet, die jeweils mit sehr vielen Aufgaben und Herausforderungen verbunden sind. Von nun an werde ich Theateraufführungen mit anderen Augen sehen.