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Eindrücke vom Festlichen Auftakt für die 3. Kohorte des Kollegs
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Auszug aus der Rede von Tinghui Duan:
"Vor zwei Wochen wurde der Schriftsteller Abdulrazak Gurnah mit dem diesjahrigen Literaturnobelpreis ausgezeichnet. In einem BBC-Podcast im Jahr 2010 hat er von seiner Kindheit an der Ostküste Afrikas erzählt. Dort findet man am Strand kleine Keramikscherben. Manche ältere Menschen erzählen, dass die Scherben aus China kommen. Als Kind hat Abdulrazak Gurnah das wohl nicht geglaubt. Von solchen Geschichten hatte er schon zu viele gehört, vom fliegenden Teppich, von den Abenteuern des Prinzen und so weiter. Erst später wusste er solche scheinbar wertlosen Keramikscherben zu schäatzen, als er oft ins Museum gegangen ist und sich mit der Handelsgeschichte über den indischen Ozean auseinandergesetzt hat. Diese Scherben sind wertvoll, weil sie auf Verbindungen hindeuten, sie sind Fragmente, die eine Vollständigkeit in sich tragen. "And then you see the object itself, and you see its completeness, and its weight, and its beauty, and it makes this inescapable - this presence
over centuries of a culture as far away as China." Ihm geht es natürlich nicht um die Herkunft der Scherben, sondern um die Verbindung.
Nun, was hat das mit unserem Kolleg zu tun? Man könnte sagen, es gibt eine "Romantik", von der wir zwar kaum Ahnung haben, aber wir haben doch einige Scherben davon gefunden, sei es ein Mondgedicht von Eichendorff, ein Landschaftsgemälde von Caspar David Friedrich oder eine Musikkomposition von Robert Schumann. Diese Scherben gehören zusammen, so wie wir, wir vor allem als Menschen, aber auch als Forschende, die mit unseren ebenso scherbenartigen Projekten gemeinsam dazu beitragen, auf
wissenschaftlicher Ebene ein Modell Romantik zu bilden. Apropos Wissenschaft, auch die am Kolleg vertretenen wissenschaftlichen Disziplinen sind Scherben. Manche davon haben anscheinend nicht viel miteinander zu tun, aber nur auf den ersten Blick. Mit einem tieferen Verständnis stellt man am Ende fest, dass sie doch viele Gemeinsamkeiten haben."
Auszug aus der Rede von Luisa Turczynski:
"Ich erinnere mich an unsere erste offizielle Vorstellungsrunde am Kolleg, bei der wir uns gegenseitig erzählen sollten, was ‚Romantik‘ für uns persönlich bedeutet. Mein Notizbuch von damals verrät, dass mir diese Frage ziemliches Kopfzerbrechen bereitet hat und ich letztlich über einen kleinen See in der Nähe von Concord, den Walden Pond, gesprochen habe. Dort hat Henry David Thoreau, ein bedeutender amerikanischer Romantiker, etwas länger als zwei Jahre in einer eigens gebauten Holzhütte gelebt und sich intensiv damit auseinandergesetzt, was ein gutes Leben ausmacht. [...]
Heute – nach drei Jahren der Konfrontation mit der Romantik in ihrer ‚scherbenartigen‘ Vielgestaltigkeit – würde es mir vermutlich noch schwerer fallen, präzise zu formulieren, was sie für mich persönlich bedeutet. Wahrscheinlich würde ich letztlich wieder bei Henry David Thoreau und dem Walden Pond landen – zum einen, weil eine Promotion eine gewisse Besessenheit mit dem eigenen Forschungsgegenstand mit sich bringt… Außerdem glaube ich, dass sich an dem Phänomen Thoreau beispielhaft und schlaglichtartig einige der Prozesse andeuten lassen, die uns hier am Kolleg fächerübergreifend interessieren – nämlich solche der Aktualisierung und Popularisierung von Romantik, aber auch solche ihrer klischeehaften Verengung und ideologischen Aufladung."
Auszug aus der Rede von Felix Schallenberg:
"Auch Orte können verbinden. Bevor ich nach Jena gekommen bin, kannte ich die Stadt nicht gut. Die Jenaer Frühromantik war mir ein verschwommenes Bild aus frühmorgendlichen Einführungsvorlesungen. Als ich mit meiner Promotionsphase startete, hatte ich deshalb ein relativ enges Romantikverständnis. Romantik war etwas Akademisches, graue Theorie. Das hat sich in Jena geändert.
Ein Ortswechsel kann dabei helfen, die eigene Perspektive zu erweitern. Jena ist eine gemüt-liche Universitätsstadt. Als solche hat auch sie etwas scherbenartiges: Nur knapp 40% der Einwohner:innen mit Hauptwohnsitz in Jena sind auch wirklich hier geboren – sechs von zehn Einwohner:innen sind zugezogen. – In einem Graduiertenkolleg wird diese bunte Vielfalt auf besonders dichte Weise erfahrbar. Die Arbeit an einem Thema kann Gemeinschaft stiften und die Möglichkeit schaffen, Differenzerfahrungen zu machen, bei denen man sich gegen-seitig ergänzt. Vor allem bietet sie aber auch Raum für gemeinsame Aktivitäten, die uns ein Bewusstsein dafür geben können, dass die manchmal sehr solide wirkenden Mauern der Universität nicht undurchlässig sind. Dass Romantik nicht ausschließlich im Seminarraum aufzusuchen sein muss, sondern auch im Alltag verankert ist. [...] Von wegen Weltfremd, also! Unsere Beschäftigung am Kolleg hat uns gezeigt: Man begegnet der Romantik ständig und überall. Beim Lesen, im Radio, beim Computerspielen oder eben auch mal beim Wandern über Jena. „Immer wieder Romantik“ lautet der treffende Titel eines Buchs das vor einiger Zeit im Kollegkontext erschienen ist. Offenbar hat die Romantik noch immer etwas mitzuteilen – deshalb ist es gut, dass hier ganze neun Jahre lang nach den Formen und Inhalten dieser Mitteilungen gefragt wird."
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Künstler und Künstlerin, die beim Programm des Auftakts mitgewirkt haben:
Common Sense Trio: Ben Lehmann (Bass), Ben Kraef (Saxophon), Jan Leipnitz (Schlagzeug)
Szenische Lesung: Das Tischgespräch
Autorin: Hannah Zufall
Schauspieler: Leon Pfannenmüller, Jonas Steglich (beide derzeit am Theaterhaus Jena)
Musiker: Bruno Osinski, Tuba (Jenaer Philharmonie)