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Romantik in der Praxis II: Schleiermacher-Edition
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Im Zeitraum von März bis Mai 2023 tauschte ich meinen Schreibtisch in der Bachstraße im beschaulichen Jena gegen einen Arbeitsplatz in Rufnähe zum Berliner Gendarmenmarkt ein. Genannter Schreibtisch steht in einem Büro der Räumlichkeiten der Arbeitsstelle „Schleiermacher in Berlin 1808–1834. Briefwechsel, Tageskalender, Vorlesungen“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW), deren Leiterin Dr. Sarah Schmidt mir die Möglichkeit eröffnete, für drei Monate einen Einblick in die dortigen Arbeitsweisen zu erhalten. Ich bekam die Gelegenheit, einmal von der eigentlichen Arbeit an meiner Dissertation Abstand zu nehmen und ganz neue Betätigungsfelder kennenzulernen. In meiner bald zwei Jahre währenden Arbeit an einem alten, verstaubten Text – die Dissertation ringt mit den Psychologievorlesungen Schleiermachers – hatte ich mich nie eingehend mit der Frage auseinandergesetzt, wie denn eigentlich die Texte entstehen, über die ich mir jeden Tag aufs Neue den Kopf zerbreche. Um einen Einblick in die Genese der Edition der Kritischen Gesamtausgabe zu erhalten, war ich in der Berliner Jägergasse nun goldrichtig. Die Regale gefüllt mit lauter – zugegeben fotokopierten – Nachschriften Schleiermachers Studenten (leider wohl ziemlich sicher ausschließlich Männer) und seinen eigenen Manuskripten. Als ich zum ersten Mal auf eine solche Fotokopie blickte, staunte ich nicht schlecht: Wer soll das lesen? Viel zu krakelig und durcheinander erschien mir der sich mir bietende Buchstabensalat. Schließlich wurde mir schnell klar: Die Psychologievorlesungen, die sich allzu häufig auch schon in der schön normierten und edierten Form in der „handlichen“ De-Gruyter-Ausgabe dem Zugriff verweigern, existieren selbst vornehmlich in einer solch unleserlichen Handschrift und es ist das Verdienst der Editor:innen, dass solche Text überhaupt der Forschung zugänglich sind.
An langen Nachmittagen, an denen ich gemeinsam mit anderen in Briefen und Tageskalendern Schleiermachers an editorischen Grenzfällen knobelte, durfte ich feststellen – man verzeihe mir gerade als Theologen den Ausdruck –: Verflucht, ist das kompliziert! Was in Briefen und Tageskalendern vielleicht weniger ins Gewicht fällt, wird im Hinblick auf die Vorlesungen zentral: die interpretatorische Notwendigkeit des Editors/der Editorin. Er/Sie muss sich entscheiden und damit selbst die Texte derart gut kennen, dass durch seine Interpretation der Sinn gerade nicht verschlossen, sondern erst eröffnet wird. Wie tief das ins Detail gehen kann und wie strittig es bis zuletzt bleiben kann, konnte ich schließlich Mitte Mai in Münster erfahren. Dort nahm ich gemeinsam mit den Schleiermacher-Forschenden der BBAW an einem Workshop zu Schleiermachers christlicher Sittenlehre teil, die ebenfalls derzeit in einem Akademie-Vorhaben ediert wird. Neben anderen saßen dort mit der Berliner Arbeitsstellenleiterin Sarah Schmidt und dem Vorsitzenden der Schleiermacher-Gesellschaft Jörg Dierken die geballte Schleiermacher-Kompetenz. In feinfühliger Exegese und in Zur-Ratenahme weiterer Stellen, wurden hier im Gespräch verschiedene Deutungsangebote strittiger Stellen erarbeitet. Nur ein Beispiel, das die Tragweite und Komplexität der editorischen Entscheidung verdeutlicht.
Diese hochkomplexe wissenschaftliche Grundlagenarbeit, wird an der BBAW zunehmend durch digitale Techniken erweitert. Die Schleiermacher Arbeitsstelle leistet hier Pionierarbeit, denn die Editionsarbeiten vollziehen sich in enger Koordination mit den Digital Humanities. Dies findet mitunter darin Ausdruck, dass die neuen Editionen durch digitale Darstellungsformate erweitert werden. Diese bieten etwa den Vorteil des synoptischen Vergleichs oder der zielgerichteten Stichwortsuche. Darüber hinaus kann dadurch schließlich auch die Arbeit der Editor:innen nachvollzogen werden, denn die Faksimiles werden hier ebenfalls präsentiert. Ein besonderes Beispiel für die produktive Aufnahme elektronischer Datenverarbeitung für die geisteswissenschaftliche Forschung bieten die Forschungen Holden Kelms zu Schleiermachers Ästhetik. Durch die Kombination von hermeneutischer und auf ediarum und voyant tools basierender Texterschließungsmethode werden hier die Chancen und Risiken digitaler Textanalyseverfahren kritisch reflektiert.
Das Praktikum in Berlin ermöglichte mir die Partizipation an einem spannenden Forschungsbereich. Meine wild unterstrichenen Kopien von Schleiermachers Psychologie-Manuskripten und Nachschriften sehe ich jetzt auf jeden Fall mit anderen Augen.