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Mittwoch, 21. Dezember 2022 | Andrin Albrecht

Immer wieder Phantásien. Wechselperspektiven auf Michael Endes Die Unendliche Geschichte

Romantische Lektüren

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Als ich im Alter von zehn, zwölf Jahren meine ersten eigenen Romanversuche schrieb, hatte ich noch nie von der Romantik – weder als moderner Diskurs noch historisches Phänomen – geschweige denn von irgendeinem ihrer Vertreter:innen gehört. Trotzdem waren diese Versuche – meist von Hand auf Restpapier gekritzelt und nach kaum einer Seite wieder aufgegeben – beinahe inflationär mit romantischen Motiven durchsetzt: Da folgten kindliche Heldenfiguren verzauberten Blumen, sprechenden Vögeln und dem Mond; da verschwanden Normalsterbliche in erhabenen Naturpanoramen, und Traumwelten, die doch viel mehr als nur Einbildung waren, kontrastierten mit nüchterner Realität.

Die Antwort auf die Frage, wie ein Kind schon Jahre vor seiner ersten Begegnung mit Novalis oder Lord Byron deren Bildsprache in- und auswendig kennt, ist Michael Endes Die Unendliche Geschichte. Dieser ursprünglich 1979 erschienene Klassiker – je nach Parameter der erfolgreichste in deutscher Sprache verfasste Roman aller Zeiten – war ein ständiger Begleiter in meiner Kindheit und Jugend, ein Transportvehikel über die Jahrhunderte hinweg, randvoll beladen mit Nachtblüten und Tränenseen, silbernen Städten, Elfenbeintürmen und dem, was der romantische Philosoph Friedrich Schlegel „progressive Universalpoesie“ nennt. Damals: eine bildgewaltige Abenteuergeschichte, deren abstraktere Kapitel an mir vorbeigingen.
Und heute?

Aus einer erwachsenen Perspektive betrachtet verliert Die Unendliche Geschichte kaum an Wirkungskraft, wirkt höchstens sprachlich ein wenig altbacken. Dafür gewinnt sie ungemein an Tiefenschärfe.

Der Roman handelt von dem zehnjährigen Bastian Balthasar Bux – übergewichtig, in der Schule gehänselt, mit einer verstorbenen Mutter und einem entrückten Vater – der in einem Antiquariat das namensgebende Buch stiehlt, sich auf dem Speicher seiner Grundschule versteckt, und erst nur sprichwörtlich, dann buchstäblich in Die Unendliche Geschichte eintaucht. Er liest vom sagenhaften Land Phantásien, das Stück für Stück vom „Nichts“ verschlungen wird. In anderen Worten: Wälder, Städte, ganze Landstriche, Riesen, Gnome und Nachtalben lösen sich auf, und alles, was an ihrer Stelle zurückbleibt, ist ein Gefühl, als sei man blind geworden. Der junge Held Atreju wird beauftragt, eine Rettung vor der immer weiter um sich greifenden Apokalypse zu finden. Er besteht Abenteuer, sucht Orakel auf, findet und verliert Weggefährten, und erfährt letztendlich, dass die Gefahr nur besiegt werden kann, wenn ein Mensch der Kindlichen Kaiserin – der alterslosen Herrscherin Phantásiens, irgendwo zwischen Göttin, genius loci, und Allegorie für die Fantasie selbst – einen neuen Namen gibt. Der Retter in dunkelster Stunde ist, selbstverständlich, Bastian Balthasar Bux, welcher sich seit jeher Geschichten ausgedacht hat.

Soweit der erste Teil des Romans. Im zweiten, nachdem Bastian die Kindliche Kaiserin auf den Namen „Mondenkind“ getauft hat, wird er selbst nach Phantásien transportiert, wo er das bis auf ein einziges Sandkorn vernichtete Reich durch seine eigene Vorstellungskraft neu erschafft. Dabei ist er erst eine Art Messias, wird jedoch nach und nach zu einem an seiner eigenen Macht trunkenen falschen Helden und letztendlich zum Tyrannen, der Krieg über Phantásien bringt und sich erst durch die Hilfe zahlloser Freunde und Mentoren wieder auf seine eigentliche Herkunft, den Zweck seiner Kreativität, und sich selbst besinnen kann.

Die Erzählung selbst ist dabei nur ein Aspekt des Reizes der Unendlichen Geschichte. Michael Ende, welcher den Roman gerüchteweise aus einem Notizzettel in einer Kiste voll unverwirklichter Ideen entwickelte, vertröstete seinen Verleger immer wieder aufs Neue: Er werde noch länger brauchen, das Manuskript werde auch zum dritten verschobenen Termin noch nicht bereitsein, und überhaupt müsse es ein veritables „Zauberbuch“ werden, mit edelsteinbesetztem Ledereinband …  Edelsteine konnte er aus Kostengründen nicht durchsetzen, doch als das Buch wider aller Wahrscheinlichkeit doch veröffentlicht wurde, war das Resultat kaum weniger opulent: Die Unendliche Geschichte ist in kupferrote Kunstseide gebunden, zweifarbig gedruckt – je nach Ausgabe stehen die Szenen in der realen Welt in roter, die in Phantásien in blauer oder türkisfarbener Schrift – und mit an mittelalterliche Illuminationen erinnernden Zeichnungen der Künstlerin Roswitha Quadflieg verziert. Dies hat zur Folge, dass die Grenzen zwischen Leser:in und Bastian Balthasar Bux fortwährend verschwimmen: Beide schlagen staunend ein zweifarbig gedrucktes Buch mit dem Titel Die Unendliche Geschichte auf, beide folgen Atrejus Reisen, beide fühlen sich gleichzeitig als Beobachter und als Figur in einer Welt, in der solche Wunderbücher tatsächlich existieren.

Es ist bemerkenswert, dass dieses Mise en abyme das gesamte Konstrukt nicht in postmoderner Manier zur Implosion bringt, sondern – ganz im Sinne romantischer Ironie – zwei eigentlich widersprüchliche Deutungsweisen parallel zulässt: Die Unendliche Geschichte ist gleichzeitig ein reales, im Buchhandel erwerbbares Objekt und eine unmögliche Fiktion. Sie wird von Bastian in der Behaglichkeit des Schulspeichers gelesen und gleichzeitig miterlebt – und dieses Miterleben ist seinerseits gleichzeitig eine Metapher für den Imaginationsprozess und abenteuerliche Realität. Phantásien ist die ureigene Schöpfung von Bastian Balthasar Bux bzw. von Michael Ende, aber zugleich ein Mosaik aus hunderten vorgegangenen Kunstwerken. Nicht nur steckt dieses Buch voll mehr oder weniger expliziter Verweise – auf William Shakespeare, Salvador Dalí, Aleister Crowley, Giuseppe Arcimboldo, C. S. Lewis, Astrid Lindgren, J. R. R. Tolkien, Lewis Carroll sowie dutzende Märchen und Heldensagen aus verschiedenen Kulturkreisen –, von denen einem Kind beim Lesen höchstens eine Handvoll auffallen, sondern es orientiert sich in Form und Thematik auch ganz bewusst an literaturgeschichtlichen Vorbildern ganz besonders aus der deutschen Romantik: Die spiegelsymmetrische Struktur, beispielsweise, kennt man aus Novalis’ Heinrich von Ofterdingen – und es ist wohl kein Zufall, dass Blau nicht nur die Farbe der in Phantásien spielenden Textteile ist, sondern auch von Bastians Kleidung, als er diese durchwandert –, über künstlerische Weltenschöpfung und die Entzückung, aber auch die Verzweiflung und den Wahnsinn, welche durch die Unendlichkeit eines solchen Unterfangens hervorgerufen werden können, wurden schon zu Zeiten der Französischen Revolution Traktate geschrieben.

Ist Die Unendliche Geschichte demnach lediglich ein romantischer Roman im neuen, kupferfarbenen Gewand? Ja und nein. Einerseits vertritt sie eine ur-romantische Poetik mit ur-romantischen Motiven: ein Plädoyer für die Wirkung subjektiver Vorstellungskraft, für die Dichtung neuer Himmel im Angesicht persönlicher und gesellschaftlicher Krisen. Andererseits ist sie ein selbstreflektiertes Experiment in der Übertragbarkeit dieser Motive, ein Buch, das von sich selbst handelt. Wie wirkt sein Inhalt auf jemanden – einen zehnjährigen Jungen auf dem Speicher seiner Grundschule, eine Leserin im Deutschland der Nachkriegszeit oder des einundzwanzigsten Jahrhunderts – die in auf den ersten Blick vollkommen anderen Umständen leben als die ursprünglichen Romantiker:innen? Welche Motive eignen sich am besten zum Transfer? Welche Gefahren bergen sie, und wie kann diesen Gefahren entgegengewirkt werden? Und in welchem Gewand entfalten diese Motive in der heutigen Zeit ihre größtmögliche Wirkungskraft, nicht nur als subjektive Transformationskraft, sondern auch als literarisches Erbe?

Liest man heutzutage Nachrufe auf Michael Ende und diesen seinen erfolgreichsten Roman, so wird regelmäßig behauptet, dass Die Unendliche Geschichte nach ihrer Erstveröffentlichung von der Kritik verrissen, als gefährlicher Eskapismus abgetan worden sei. Sieht man sich die Quellenlage ein wenig näher an, stimmt dies keinesfalls: Natürlich gab es vereinzelte herablassende Rezensionen, aber die überwiegende Mehrheit war schon damals positiv, wenn nicht sogar begeistert.  Doch die bloße Tatsache, dass ein solches Narrativ uns nach wie vor plausibel erscheint, zeigt, wie aktuell und nach wie vor unbeantwortet die Frage nach der Rolle romantischer Motivik in der Moderne ist. Träumerei oder Befreiung? Eskapismus oder hochpolitische Metapher?

Die Unendliche Geschichte kann nicht nur als Stein des Anstoßes, sondern auch als Antwortversuch gelesen werden. Sie ist gleichzeitig eine Umsetzung romantischer Poetik, wie man sie durchaus auch schon vor zweihundert Jahren hätte lesen können, eine Vermittlung romantischer Bilder an ein Publikum, das womöglich nie mit Byron oder Novalis direkt in Kontakt kommen wird, und eine Metareflektion über dieselben. Sie handelt von der romantischen Reise eines Jungen, aber gleichzeitig auch von einem Jungen, der mit romantischen Reisevorstellungen in Kontakt kommt, und lädt uns ein, wenn wir den roten Seiteneinband öffnen, romantisch zu reisen, Bastian beim romantischen Reisen zuzuschauen, und über dieses Zuschauen ganz unromantisch zu reflektieren.

Über all dies hinaus ist Die Unendliche Geschichte aber auch ein beispielloses Lesevergnügen, für Kinder ebenso wie für Erwachsene. Erstere werden mit einigen Querverweisen und allegorischen Kapiteln bisweilen nicht so viel anfangen könne, letztere die Muster und Figuren manchmal gar altvertraut finden. All dies wird jedoch ein ums andere Mal durch Detailreichtum, narrative Komplexität und schiere Spielfreude wettgemacht. Michael Ende hat mit Die Unendliche Geschichte die Romantik in die Gegenwart geschrieben und, wie mein persönliches Beispiel zeigt, unzählige weitere ihrerseits zum Weiterschreiben gebracht: eine unendliche Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes, die lange vor der ersten Zeile dieses Romans beginnt und nach seiner letzten Seite ungebremst weitergeht.

Michael Ende: Die Unendliche Geschichte. Stuttgart: Thienemann-Esslinger, 2019 [Erstveröffentlichung 1979].