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Mittwoch, 2. Juni 2021 | Martin Ehrler

Exkursion ins Goethe- und Schiller-Archiv Weimar

Martin Ehrler berichtet von der Anfang Juni erfolgten Exkursion in das Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar.

Jüngst war das Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv mit einem spektakulären Ankauf in den Titelzeilen der Feuilletons: Erworben wurden die bisher unentdeckten Protokolle der „Deutschen Tischgesellschaft“, einer 1811 gegründeten Vereinigung von Adeligen, Bürgern, Militärs, Professoren, Künstlern mit einer starken Bindung an Preußen oder die antizipierte deutsche Nation. Der Fund ging in den Nachlass des Gründungsmitglieds Achim von Arnim ein. Auch wenn es eine zufällige Fügung gewesen sein mag, hätte der Zeitpunkt der Exkursion kaum günstiger gewählt sein können, denn diese Bestandserweiterung wird in den Diskursen zur deutschen (politischen) Romantik in der nächsten Zeit eine Rolle spielen.

Mitglieder des Kollegs hatten sich am 02. Juni in Weimar eingefunden, um dem ältesten Literaturarchiv des Landes einen Besuch abzustatten. Das auf Geheiß der Großherzogin Sophie 1885 ins Leben gerufene Goethe-Archiv, dem nur einige Jahre später auch der Nachlass Schillers überantwortet wurde, sieht sich seit jeher mit den Komplexitäten des Archivierens und Verwaltens konfrontiert. Dem schon zu Lebzeiten auf Dauer angelegten, wohlgeordneten Nachlass Goethes steht der unvollständige und teilweise chaotisch anmutende Nachlass seines Kollegen Schiller gegenüber, dessen Handschriften von Apologeten teilweise in Schnipsel zerschnitten und als Memorabilien in hunderte Hände verteilt wurden. Die Monumentalität und Fragmentarität der Nachlässe des namensgebenden Weimarer Duos bilden somit jene Pole ab, zwischen denen der Direktor des Archivs, Marcel Lepper, die schriftlichen Hinterlassenschaften zahlreicher namhafter Autoren gesprächsweise einordnete. So lagern in Weimar beispielsweise die Nachlässe Herders, Wielands, der Arnims und Nietzsches. Das Archiv verwahrt mehr als 150 Nachlässe von Schriftstellern, Gelehrten, Philosophen, Komponisten und bildenden Künstlern, aber auch die Archive von Verlagen, Vereinen und literarischen Gesellschaften sowie Einzelhandschriften von circa 3.000 Persönlichkeiten vom Ende des 13. bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts.

Marcel Lepper gab Einblicke in die Geschichte des Hauses, welches in den über 130 Jahren seines Bestehens ideologische und politische Vereinnahmungen erlebt hat, deren Aufarbeitung selbstverständlich auch Aufgabe des Archivs ist. Darüber hinaus wusste er aber auch durchaus amüsant von der ständigen Suche zu berichten, dem Archiv verschollenes und unbekanntes Material zuzuführen. Auch von Goethe fehlen noch etwa 600 Briefe, größtenteils jene, die der Meister mit Weimaraner Poststempel in die Welt verschickte. Die Preise, die solche Schriftstücke auf dem Markt erzielen, stehen denen so mancher Kunstwerke in nichts nach. Private Autografensammler, Museen, internationale Bibliotheken und Archive liefern sich einen Wettstreit. Trotz seiner herausragenden Position als international weit vernetzte Sammelstelle kann das Goethe- und Schiller-Archiv dabei nicht jeden Preis zahlen. Es gilt daher, die seltenen Originale möglichst aus privaten Beständen aufzukaufen. Die detektivische Arbeit des Aufspürens gelinge nur, weil das Haus auf ein weit verzweigtes Netzwerk zurückgreifen könne, so Lepper. Dass sich sein Archiv ohne diese Neuanschaffungen zu leeren drohe, darum müsse er sich jedoch keine Sorgen machen. Archive würden sich täglich anreichern – nicht allein durch Deutungen, sondern auch durch Material.

Wie das praktisch aussieht, konnten die Mitglieder des Kollegs nachvollziehen, als sie unter den Augen des Direktors das neuerworbene Konvolut der Deutschen Tischgesellschaft durchblätterten und mit Staunen auf den Namenszug Heinrich von Kleists stießen. Gerade dieser Einblick offenbarte dabei auch die nicht reproduzierbaren haptischen und auch olfaktorischen Qualitäten der historischen Schrift. Welche Möglichkeiten und Schwierigkeiten ein solch verspäteter Fund bereiten kann, stellte Marcel Lepper deutlich vor Augen. Nicht nur die Forschung muss sich nun daran machen, bisherige Grundannahmen zu der von Achim von Arnim und Adam Müller begründeten „Christlich Deutschen Tischgesellschaft“ neu zu bewerten – auch das Archiv selbst sieht sich anhand eines solchen Fundes mit höchstrelevanten Fragen konfrontiert. Das betreffe die Konzeption von Archivierung und Bereitstellung, das Edieren, Publizieren und Digitalisieren und nicht zuletzt die ganz konkrete Frage, wie der Fund in die seit dem Jahr 2000 laufende historisch-kritische Ausgabe Arnims zu integrieren sei, die das Werk, die Aufzeichnungen und den Briefwechsel des Autors in seinem Lebens- und Zeitkontext erschließt. Vor Augen führt diese Debatte darüber hinaus, welch hoher Aufwand hinter einer solchen Konzeption steht. Am Archiv, das wurde deutlich, wird Wissenschaft vor allem als praktische Tätigkeit betrieben. Dass nicht nur beim Editionsprojekt zu Arnim noch viel zu tun ist, sondern auch große Teile der Archivalien des „langen 19. Jahrhunderts“ einer editorischen Erschließung bedürfen, verweist letztlich auch auf den mitunter herrlich utopistischen Projektcharakter, den man einem solchen Archiv wohl zugestehen muss.

Dass dem Archiv ein entscheidender Transfer ins Digitale bevorsteht, dürfte kaum überraschen. Die technischen Möglichkeiten dabei sinnvoll einzusetzen, ein möglichst breites Angebot zu schaffen, ohne dabei editorischen Standards zu entsagen, stellt die wohl größte Herausforderung der nächsten Jahre und Jahrzehnte dar. Marcel Lepper startete eine Debatte um alte und neue Bedürfnisse im Umgang mit Forschungsinstitutionen und -medien. Als Ergebnis kann man festhalten, dass Einigkeit in der Feststellung veränderter Datennutzung bestand. Auf die Zunahme der Geschwindigkeit müssen auch die Archive reagieren. Es wurden in diesem Kontext auch die literarischen Gesellschaften angesprochen. Problematisch sei eine gewisse Ungleichzeitigkeit, denn EditorInnen, deren Arbeit in und von diesen Gesellschaften vorangetrieben werden, arbeiten oftmals noch nach altem Stil. Die Zukunft von solchen Formaten erschien ungewiss.

Schließlich entspann sich um die Frage nach dem heutigen Gebrauchswert von Editionen eine Debatte um Wissenschaft und Transfer. Marcel Lepper betonte die Notwendigkeit einer Zweigleisigkeit, die zum einen wissenschaftliche Forschung – Editionsarbeit quasi als Grundlagenforschung – ermögliche, zum anderen aber einer Nutzung von Archivarbeit für den aktuellen Kulturbetrieb, die Kulturvermittlung. Als Beispiel stellte er hier die Vorbereitungen einer digitalen Edition der Gedichte Goethes vor. Es gehe darum, Goethes Gedichte in einer Gesamtschau darzustellen, zu zeigen, wie Goethe an seinen Gedichten gearbeitet habe und die Frage: Lassen sich wissenschaftliche Ansprüche und diejenigen kulturell interessierter Nutzer in einer digitalen Goethe-Werkedition verbinden? Wer kann etwas davon gewinnen, wenn Zeugen von Goethes lyrischem Schaffen und das seit dem 19. Jahrhundert produzierte philologische Wissen digital vernetzt präsentiert werden? Können Wissenschaft, heutige AutorInnen und Schulen davon profitieren, wenn Handschriften und Drucke digitalisiert und neue Modelle für die Erfassung, die Analyse und Präsentation der Daten erprobt werden?

Es bleibt zu hoffen, dass dieser Termin in Weimar nur der Aufschlag zu einem kontinuierlichen Austausch zwischen Archiv und Kolleg gewesen ist. Bei bestem Wetter nutzte die Gruppe im Anschluss noch die Annehmlichkeiten lange ausgebliebener Präsenzveranstaltungen und nahm im Park an der Ilm das ein oder andere kollegiale Getränk zu sich.