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Dienstag, 30. Januar 2024 | Caroline Will

Bericht zum Graduiertenworkshop „‚Waldeinsamkeit‘. Initiation und Kritik der Romantik. Ludwig Tieck zum 250. Geburtstag“

Anlässlich des 250. Geburtstages von Ludwig Tieck veranstaltete das Graduiertenkolleg „Modell Romantik“ am 30. November 2023 einen Workshop mit dem Titel ‚Waldeinsamkeit‘. Initiation und Kritik der Romantik. Titelgebend für die Veranstaltung ist Tiecks letzte Novelle Waldeinsamkeit (1841). In dieser Novelle rechnet Tieck mit dem schwärmerischen romantischen Subjekt ab und übt selbstironisch Kritik an der Romantik. Dies nahmen die beiden Organisator:innen Catherine Weis (Jena) und Sigmund Jakob-Michael Stephan (Jena) zum Anlass, Kontinuitäten und Brüche in Tiecks literarischem Schaffen gemeinsam mit fünf geladenen Expert:innen zu untersuchen.

Der Sprecher des Graduiertenkollegs Prof. Dr. Stefan Matuschek (Jena) begrüßte die Teilnehmenden und erinnerte daran, dass Tieck als Begründer der fantastischen sowie der phänomenal-romantischen Literatur in Deutschland gelten könne. Dabei spiele er immer wieder mit bekannten Gattungen und Formen, das Parabatische sei typisch für ihn und schließlich habe er mit Franz Sternbalds Wanderungen (1798) den Prototyp des romantischen Künstlerromans geschrieben. Matuschek erinnerte daran, dass Tieck in Berlin als Aufklärer angefangen habe; erst in Jena sei er dann in seinem „unnützesten Zeug“, so schimpfte Friedrich Nicolai, durch Friedrich Schlegel bestärkt worden, nämlich dem Romantischen. Innovativ seien Tiecks Beitrag zum Wunderbaren bei Shakespeare (Über Shakspeare’s Behandlung des Wunderbaren, 1793/94) und seine Übersetzungen desselben und von Cervantes. Heute sei erstaunlich, dass Tieck trotz seiner Leistungen der breiten Bevölkerung eher unbekannt sei, was an der schlechten Editions- und Publikationssituation seiner Werke liege.

David Takamura (Dickinson College) schloss mit seinem Vortrag über Tieck und die Bewahrung der Ironie an. Er sprach über das Verhältnis des Autors Tieck zu seinen Figuren und inwiefern diese ironisch oder doch als kritisches Exempel zu lesen seien; seine Erörterungen brachte er polemisch auf den Punkt: „Ludwig Tieck hasst seine Figuren.” Takamura identifizierte eine selbstkritische Form der romantischen Ironie in der Schwärmerkritik in Tiecks Lovell-Roman, die einer Ethik der Selbstbeschränkung verpflichtet sei und insofern auf seine späteren Texte vorausweise.

Flavio Auer (München) referierte über Die Bedeutung von „Natur“ in Ludwig Tiecks Werken. Mehrere frühe Texte Tiecks durchkämmte Auer auf deren Naturkonzepte. In Abdallah (1795) sieht Auer einen „Trivial-Epikureismus” am Werk: Nur der Genuss erscheine als ein sinnvolles Lebensziel, der Mensch solle sich gar nicht über die Tiere erheben, sondern ein in diesem Sinne naturgetreues Leben führen. Im satirischen Text Der Naturfreund (1797) wendet sich Tieck gegen eine philiströs-empfindsame Naturliebhaberei: Die Hauptfigur wolle nichts auslassen, sondern alles erleben. In Die Freunde (1797) wandert der Protagonist in ein Dorf zu einem kranken Freund. Hier hilft die poetisierte Natur, den Freund zu heilen. Im Blonden Eckbert (1796/97) spielt bekanntermaßen der Topos der Waldeinsamkeit eine tragende Rolle. In Franz Sternbalds Wanderungen (1798) sei die Natur voller Chiffren, die in der geheimen Sprache des Göttlichen zum Protagonisten sprächen. Tiecks dezidiert romantische Texte zeigen die Natur nicht in höchster Position, sondern als ein Übergangsbereich zum Absoluten. Die Natur, so erläuterte Auer, befinde sich in einer Dreierordnung zwischen empirischer Alltagswirklichkeit und der höheren Welt.

Prof. Dr. Frederike Middelhoff (Frankfurt) hielt einen Vortrag mit dem Titel „Ein solcher Uebersetzer wird Künstler und selbst schaffender Autor“. Dis/Kontinuitäten im Beziehungsgeflecht von Dichtung und Übersetzung bei Ludwig Tieck. Sie leitete mit dem Tieck-Zitat ein, dass der Autor die literarische Übersetzung als „Dichtung der Dichtung“ ansah. Tieck übersetzte aus dem Englischen, dem Spanischen und dem Mittelhochdeutschen. Middelhoff zeigte für alle drei Sprachen eine stets anzutreffende Grundhaltung Tiecks im Übersetzen auf (‚Kontinuitäten‘). Dem „Erzdichter“ (Middelhoff) Shakespeare habe sich Tieck nur nähern können, indem er ihn „gleichsam neu erschuf“ (Middelhoff). Der „ächtpoetische Sinn“ (Tieck) musste dabei aber gewahrt bleiben. Auch Tiecks Beschäftigung mit Cervantes verweise auf den Gedanken der ‚Sympraxis‘, wonach Übersetzen als kollektive Anstrengung zu verstehen sei. Tiecks Übersetzungen mittelhochdeutscher Minnelieder schlügen sich in seiner eigenen literarischen Produktion nieder, wie Tiecks Gedicht Der Minnesänger (1820) zeigt. Eine ‚Diskontinuität‘ zu den übersetzten Vorgänger-Texten markiere Tieck, so Middelhoff, wenn er beispielsweise seiner Übersetzung von Shakespeares The Tempest seine eigene Abhandlung Über das Wunderbare (1796) voranstelle.

Dr. Christoph Rauen (Kiel) sprach über Metaisierung und der lange Abschied von der Kunstperiode. Zu Tiecks erzählerischem Werk seit 1820. Gemeinsam sei den Werken Tiecks seit 1820, dass sie in kritische Distanz zur Romantik gingen, ohne dabei aber eine romantische Poetik vollends hinter sich zu lassen. Rauen schaute sich dazu Tiecks frühe Straußfedern-Erzählungen, aber auch Waldeinsamkeit an. Die „Schwärmerkritik“ (Rauen) sei ein Ziel dieser Texte: Eine kritisch-auktoriale Distanz stelle sich her, wenn die Figur des Schwärmers nicht mehr zwischen Innen- und Außenwelt unterscheiden könne. Rauen machte seine These stark, dass sowohl der bürgerliche Alltag kritisch gesehen werde, die späten Texte aber auch fantastische Verfahren auf einer metadiegetischen Ebene, etwa über die Tagebücher des Verrückten in der Waldeinsamkeit, reflektierten. Diese Texte ab den 1820ern seien Wegbereiter jener sogenannten Biedermeier-Wende, da sie eine zunehmend mimetische Schreibweise aufwiesen. Symptomatisch für diese Entwicklung sei auch der Phantasus (1812-16) mit seiner Rahmenerzählung und den Streitgesprächen zwischen klassizistisch und „vaterländisch“ eingestellten Figuren.

Dr. Lisa Kunze (Göttingen) beschäftigte sich in ihrem Vortrag Lebenskraft als Numinosum: Märchenhafte Ökologie in Ludwig Tiecks „Elfen“ und Hans Christian Andersens „Dryade“ mit der Kategorie des „Numinosen“, das zugleicht beängstigend und beglückend für die Figuren sei. Im Vergleich von Tiecks Elfen (1811) und Andersens Dryade (1868) zeigt sich die Tendenz der Moderne: Die Dryade in Andersens Märchen transformiere den Mythos und führe dessen Gemachtheit vor. Anders als Tieck gebe es in Andersens Märchen eine Spannung zwischen Mythologischem und einem Erzählen vom Leben in einer modernen Metropole, sodass das Märchen zur „Großstadtreportage“ werde, resümierte Kunze.

Im Anschluss an die Vorträge des Workshops gab es ausführlich Zeit für die Diskussion von Tiecks Novelle Waldeinsamkeit (1841).
Zunächst beschäftigte die Debatte die Spannung zwischen Komik und Romantikkritik, die durch das von Tieck selbst erfundene Schlagwort „Waldeinsamkeit“ und dessen explizite Verhandlung durch die Figuren in der gleichnamigen Novelle aufgerufen werde. Im Ausdruck ‚Waldeinsamkeit‘ sei aber überdies noch eine historisch-religiöse Dimension enthalten, ‚Waldeinsamkeit‘ mithin eine säkularisierte Form der Askese.
Mit dem Wald, der Reise und der Lektüre wurden weitere zentrale Motive des Textes in diese Spannung von Romantikkritik einerseits und einem komischen Spiel mit Erwartungen andererseits eingeordnet. So werde etwa das romantische Motiv des Wanderns ironisierend aufgegriffen, wenn eine Figur einen ‚Ausflug durch das Haus‘ unternimmt.
Spannend sei überdies, wie Tiecks Novelle mit Lesererwartungen spiele. An vielen Stellen erwarte der Romantik-geschulte Lesende ein fantastisches Element, welches dann doch nicht erscheint.
Zur ambivalenten Struktur des Textes gehört auch das Ende, über welches die Diskussion zuletzt beriet. Man schloss die Diskussion mit dem Befund, dass die Hauptfigur wie auch Rezipierende in irritierender Weise eine Sehnsucht bzw. eine Lese-Erwartung erfüllt bekämen. Der Text mache die realistische Probe aufs Exempel, inwiefern die Romantik ihre Versprechungen halten könne.

Insgesamt war es eine ertragreiche Veranstaltung, bei der man neue Aspekte von Tiecks Schaffen erkannte und einen selten untersuchten Text von Tieck, Waldeinsamkeit, fruchtbar diskutierte.

 

Programm

9:00 Prof. Dr. Stefan Matuschek (FSU Jena): Begrüßung und Einführung

9:30 David Takamura (Duke University): Tieck und die Bewahrung der Ironie.

10:15 Kaffeepause

10:30 Flavio Auer, M.A. (LMU München): Die Bedeutung von „Natur“ in Ludwig Tiecks Werken.

11:15 Prof. Dr. Frederike Middelhoff (Goethe-Universität Frankfurt): „Ein solcher Uebersetzer wird Künstler und selbst schaffender Autor“. Dis/Kontinuitäten im Beziehungsgeflecht von Dichtung und Übersetzung bei Ludwig Tieck.

12:00 Mittagspause

13:00 Dr. Christoph Rauen (CAU Kiel): Metaisierung und der lange Abschied von der Kunstperiode. Zu Tiecks erzählerischem Werk seit 1820.

13:45 Dr. Lisa Kunze (GAU Göttingen): Lebenskraft als Numinosum: Märchenhafte Ökologie in Ludwig Tiecks „Elfen“ und Hans Christian Andersens „Dryade“

14:30 Kaffeepause

15:00 Gemeinsame Diskussion der Waldeinsamkeit

18:30 Abendessen im Restaurant „Zur Noll“