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Dienstag, 24. November 2020 | Paula Kitzinger

Aus der Werkstatt des Kollegs, Teil 7 mit Paula Kitzinger

Hier geben Wissenschaftler und Wissenschaflerinnen des Graduiertenkollegs den Blick
auf ihren Schreibtisch frei: Sie schreiben oder sprechen darüber, welche Arbeit derzeit auf sie wartet,
worüber sie nachdenken, mit welchen romantischen Themen, Texten, Bildern und Musikstücken
sie sich gerade beschäftigen. In vielen Fällen sind das Aspekte einer Dissertation.
Es können aber auch im Entstehen begriffene Projekte und Bücher anderer Art sein.
Oder Gedanken und Nebenwege, auf die einen die Beschäftigung mit der Romantik führt.

Rund um den Themenkomplex Heimat

Im Zuge der Planungen für unsere anstehende Tagung „Romantisierung von Politik“ (15./16. Januar 2021) und daneben, weil es für meine Dissertation relevant ist, befasse ich mich derzeit mit unterschiedlichen Aspekten der Heimat-Thematik. Eigentlich müsste man, ähnlich wie es sich mit der Romantik verhält, den Heimatbegriff im Plural verwenden, denn die Verwendungskontexte, Assoziationen und Variationen sind naturgemäß so heterogen, dass man rasch den Überblick verlieren kann und Missverständnisse hervorruft, sofern man nicht genau bestimmt, auf welchen zeitlichen Rahmen und auf welches kulturelle Umfeld man sich beim Sprechen/Schreiben über Heimat gerade bezieht.

Vor kurzem ist ein romanistischer Sammelband unter dem Titel „Heimat – patrie/patria. (Re-)Konstruktion und Erneuerung im Kontext von Globalisierung und Migration“ erschienen, in dem ich auch selbst einen Aufsatz platzieren durfte. Die Beiträge werfen ganz unterschiedliche Schlaglichter auf die Heimat-Thematik und dabei kristallisiert sich heraus, dass Heimat, obwohl ein deutsches Wort, nicht ausschließlich ein deutsches Phänomen ist. Auch andere europäische (und außereuropäische) Debatten beschäftigen sich mit Zuschreibungen und Deutungen von Identität, Zugehörigkeit, Fremdes vs. Eigenes und der Verortung des Individuums in Gesellschaften. So gibt es in Frankreich Diskurse über die kulturell-religiöse „Beheimatung“ von Muslim*innen, die seit mindestens zwei Generationen in Frankreich leben und kaum noch affektive Zugänge zu den Herkunftsländern der jeweiligen Familie herstellen können und möchten. Rumänische Heimatdiskurse haben nach dem Zerfall des Sozialismus einen beinahe radikalen Paradigmenwechsel von nationalistisch hin zu individualisiert und (durch Migration) verlust-bestimmt erfahren. Und in Katalonien wird derzeit versucht, vor allem über Sprachpolitik ein eigenes katalanisches Heimatgefühl zu konstruieren.

Auch in der italienischen Literatur, die der Gegenstand meiner Forschungsarbeit ist, lässt sich ein anhaltendes Spannungsverhältnis zwischen den beiden Polen piccola patria (im Sinne der individuellen Herkunft, Heimat?) und der grande patria diagnostizieren. Waren zu bestimmten Zeiten (vor dem 19. Jahrhundert) die Grenzen zwischen den beiden Polen klarer abgesteckt, wenn nicht sogar durch einen Antagonismus gekennzeichnet, so verwischen die Trennlinien seit der Romantik und dem formal abgeschlossenen Einigungsprozess Ende des 19. Jahrhunderts. Auch wenn Italien im Anspruch der Protagonisten der Einigungsbewegung zu einer patria für alle Italiener*innen geworden ist, würde vermutlich ein Großteil heute behaupten, ihre patria sei der Herkunftsort oder die Region, in der sie leben. So hat sich der Begriff in seiner Semantik von „Vaterland“ zu (einer Variante von) „Heimat“ verschoben. Wird patria noch im Sinne von „Vaterland“ verwendet, dann mit einer bestimmten Intention, die entweder politisch-ideologisch gestrickt ist oder sich explizit auf vergangene Zeiten bezieht, in denen patria noch als vermeintlich „unschuldiger“ Terminus galt – als Objekt und Methode der Vergangenheitsbewältigung. In den Texten, die ich behandle, versuche ich, diese Stricke zu entflechten, um sie besser zu verstehen und schematisieren zu können und schließlich nachzuweisen, dass romantische Darstellungsmuster in den italienischen Varianten des Heimatbegriffes immer noch nachwirken.  

Bei unserer Tagung im Januar werden wir zwei Beiträge hören, die Heimat im deutschsprachigen Raum näher ausleuchten.  Einer davon wird sich mit der Relation von Heimat und der historischen Romantik befassen, der andere mit rechtspopulistischen, patriotischen Ausdeutungen von Heimat in bestimmten Sparten gegenwärtiger Musik. Klar geworden ist mir bei der Sichtung der Texte für die Tagung, bei der Lektüre des jüngsten Sammelbandes und bei den Recherchen für meine Dissertation, dass, ungeachtet in welchen Kulturraum man blickt, ein ganz schmaler Grat besteht zwischen einer positiven beziehungsweise neutralen Konnotation von Heimat und dem Kippen in Richtung gefährlicher Instrumentalisierung, Ideologisierung und folglich Abgrenzung und Ausschluss bestimmter Gruppen oder Individuen. Letzteres geschieht, so meine ich es für mich verstanden zu haben, wenn der Begriff einmal – von welcher Instanz auch immer – gesetzt wird und lange Zeit statisch bleibt. Ersteres dagegen tritt dann ein, wenn Heimat als Prozess begriffen wird, als unendliche Suchbewegung, die immer wieder re-aktualisiert wird und vor allen Dingen niemals totalisiert wird. Ob diese zugegeben intuitive Differenzierung bestehen kann, wird sich, so hoffe ich, im Zuge der Vorträge und Diskussionen im Januar herausstellen. 

Schreibtisch Paula Kitzinger

Bild für Blogreihe "Aus der Werkstatt"