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Aus der Werkstatt des Kollegs, Teil 5 mit Martin Ehrler
Wir sind keine Romantiker mehr! – „Zero Waste“ im MdbK Leipzig
In seinem Artikel zur Landschaft im Handbuch Literatur und Raum bringt der französische Literaturwissenschaftler Michel Collot das gegenwärtige Interesse an Landschaft auf den Punkt: Die Landschaft sei, so Collot, „gerade im Moment ihres drohenden Niedergangs oder sogar ihres Verschwindens […] wieder zum Gegenstand allgemeinen Interesses im sozialen, intellektuellen, literarischen und künstlerischen Leben geworden“. Dieser Diagnose kann ich mich nur anschließen. Mehr noch, ich würde behaupten, unter Krisenbedingungen finden enorme Erneuerungsbestrebungen der ästhetischen Kategorie statt. Wenn auch unter geänderten Vorzeichen, so sind diese durchaus vergleichbar mit der grundlegenden Neubestimmung und Aufwertung des Gegenstandes um 1800. Noch immer prägen die zur Zeit der Romantik entwickelten Konzepte Seh- und Abbildungskonzepte von Landschaft, ja, erst sie bilden die Folie, vor der Landschaft seit einigen Jahrzehnten ästhetisch neu verhandelt wird. Immer wieder stoße ich quasi zufällig auf zeitgenössische Arbeiten, die sich genau in diesem Spannungsfeld zu bewegen scheinen. So auch vor Kurzem, als ich auf eine Sonderausstellung im Leipziger Museum der bildenden Künste aufmerksam wurde.
Das Museum der bildenden Künste in Leipzig wartet derzeit mit einer sehr am Zeitgeist orientierten Wechselausstellung auf. Die gemeinsam mit dem Umweltbundesamt kuratierte Ausstellung „Zero Waste“ setzt ganz bewusst auf die politische und soziokulturelle Wirksamkeit ihrer Exponate – das hier Gezeigte, so kann man den Eindruck gewinnen, will als engagierte Kunst verstanden werden.
Die Kunstwerke der sehr heterogen zusammengestellten Ausstellung, beigesteuert von 20 Künstlern aus sieben Nationen, seien es Fotografien, Videos, Installationen oder Performances, eint ihr kritischer und mitunter besorgter Blick auf eine Welt, die immer markantere Spuren unseres Wirtschaftens und Misswirtschaftens trägt. Dass hier mitunter Müll im musealen Kontext ausgestellt wird, ist mit Sicherheit nicht als kontrovers-dadaistischer Akt zu deuten, sondern soll als Botschaft verstanden werden. Die Exponate eint darüber hinaus, dass sie nicht nur – und das tut jede der ausgestellten Arbeiten auf eine ganz eigene, dabei jedoch immer recht subtile Weise – belehrend den Finger heben möchten, sondern eingeforderte Maßstäbe auch an sich selbst ansetzen. Die von Hannah Beck-Mannagetta und Lena Fließbach kuratierte Schau achtet deswegen auf den CO2-Fußabdruck der präsentierten Werke und der Ausstellung insgesamt. Dass auch die längst als global sich verstehende Kunstwelt ihren Anteil an den ökologischen Krisen unserer Zeit hat, scheint als Problem erkannt, weshalb man sich nicht auf eine intervenierende Extraposition zurückzieht, sondern ganz bewusst auf materialaufwendige Installationen und lange Transportwege der Exponate verzichtet, um dem Ziel, eine nach Möglichkeit klimaneutrale Ausstellung zu gewährleisten, gerecht werden zu können.
In dieses ganzheitliche Konzept fügt sich dabei eine Arbeit ein, deren genauere Betrachtung lohnend scheint. Es handelt sich dabei um Raul Walchs „The Sceptical Chemist“ (2018). Das im MdbK in einer verschlankten Variation ausgestellte „Gesamtkunstwerk“, eine ganz eigenwillige Mischung aus Objekt-, Installations-, Foto- und Videokunst, greift dabei intentional auf den Titel von Robert Boyles 1661 erschienener naturwissenschaftlicher Publikation zurück. Auch Walch steht mit seinem Kunstwerk in dieser Tradition des Zweifelns. Boyles Schrift forderte nachdrücklich genaue experimentelle Methoden zur Erforschung von Stoffen und Elementen ein und gilt als wichtiger Grundstein der analytischen Chemie. Und auch Walchs Arbeit hat durchaus einen appellativen Aspekt. Die von ihm geschaffene Figur des skeptischen Chemikers ist ein Wanderer, der, in den Schutzanzug des Laboranten gehüllt, den Betrachter in eine scheinbar unbekannte Welt entführt, klandestin und monoton, abseits der Wahrnehmung. Erst in der genaueren Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk wird klar, was hier gezeigt wird., Walchs Aufnahmen entstanden in der südspanischen Provinz Almería, dem Gemüsegarten Europas.
Im zum Projekt gehörenden Video, stimmungsreich unterlegt vom Klangkünstler Robert Lippok, verfolgt man den modernen Wanderer, meist aus der Videospielen entlehnten Third-Person-Perspektive, auf seinen Streifzügen durch die Plantagenlandschaft im Süden Spaniens. Doch es findet sich kein Hinweis auf ein fruchtbar blühendes Ackerland. Stattdessen: Seltsam provisorisch anmutende Architekturen aus weißer Plastikfolie, verwaist anmutende Landschaften aus Müll, kaum Spuren menschlicher Geschäftigkeit. Es bleibt unklar, welches Ziel der Wanderer verfolgt. Doch kann von Wandern die Rede sein? Der Held rennt, hält nur einmal ganz kurz inne. Wie beim romantischen Wandern, das Lothar Pikulik als nicht ziellos, aber zumindest richtungslos beschrieben hat, scheint auch der skeptische Chemiker sich treiben zu lassen. Darin könnte der Selbstzweck in dem Streifen durch die schier endlose Plantagenlandschaft liegen. Das Video, welches keinen erkennbaren Anfang oder ein Ende hat und im Ausstellungskontext endlos geloopt wird, hat außer diesen Gängen schnellen Schrittes kein erkennbares Narrativ. Eine ebenfalls gezeigte Fotografie mit dem Titel „Laborants Pause“ zeigt einen im Video ausgesparten Moment des Innehaltens.
Durch den anders gewählten Bildausschnitt rückt diese Fotografie sich dabei in eine gewisse Wahlverwandtschaft zu den Bildern des Romantikers Caspar David Friedrich. Auch hier schaut man einer Rückenfigur über die Schulter. Doch die zunächst harmonisch wirkende Komposition mit relativ mittig verlaufendem Horizont, den Blick auf das entfernt liegende Meer lenkend, zeigt im Bildvorder- und Mittelgrund eben jene veränderte, seltsam befremdliche Landschaft. Vom Wind abgerissene Fetzen alter Folie haben sich offensichtlich in der Vegetation im Vordergrund verfangen, der Mittelgrund zeigt einen Überblick über das fast komplett von Planen überzogene Land. Betrachtet man diese Fotografie, lässt man auch die Ausstellung Revue passieren, dann ist da plötzlich dieser Gedanke: „Wir sind keine Romantiker mehr.“ Aber was dann? Soll man sich der einstigen Prognose Hugo Balls anschließen? Sind wir Futuristen? Nein, wir sind wohl Skeptiker.