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Samstag, 21. November 2020 | Luisa Turczynski

Aus der Werkstatt des Kollegs, Teil 4 mit Luisa Turczynski

Hier geben Wissenschaftler und Wissenschaflerinnen des Graduiertenkollegs den Blick
auf ihren Schreibtisch frei: Sie schreiben oder sprechen darüber, welche Arbeit derzeit auf sie wartet,
worüber sie nachdenken, mit welchen romantischen Themen, Texten, Bildern und Musikstücken
sie sich gerade beschäftigen. In vielen Fällen sind das Aspekte einer Dissertation.
Es können aber auch im Entstehen begriffene Projekte und Bücher anderer Art sein.
Oder Gedanken und Nebenwege, auf die einen die Beschäftigung mit der Romantik führt.

A Sense of Wonder in Winzerla

“How much of beauty – of color, as well as form – on which our eyes daily rest goes unperceived by us!” Henry David Thoreau, “Journal”, 1 August 1860

Ich stolpere beim gedankenlosen Scrollen durch soziale Netzwerke über Thoreaus oben zitierten Tagebucheintrag – im Namen des Walden Woods Project gepostet und mit einem Blätterteppich in sanften Herbsttönen hinterlegt. Etwas weniger sanft beenden Thoreaus Worte meinen (ohnehin schuldbewussten) Prokrastinationsversuch und zwingen meine Gedanken zurück an den Schreibtisch. Dort wartet ein Teilkapitel meiner Dissertation auf Überarbeitung, welches in die Grundannahmen, zentralen Fragestellungen und Kontroversen ökokritischer Romantikforschung einführen soll. Die (meines Erachtens) wichtigsten Vertreter*innen des Forschungsfelds streiten darin über das ‚grüne Vermächtnis‘ der britischen Romantik und des amerikanischen Transzendentalismus.

Einer der ersten Debattenführer ist William Cronon, der in seinem kulturhistorischen Essay “The Trouble with Wilderness, or, Getting Back to the Wrong Nature” (1995) die romantische Ästhetik des Erhabenen und das damit verbundene, zum amerikanischen Nationalsymbol stilisierte, Ideal unberührter Wildnis problematisiert. Trotz ihres unbestrittenen Einflusses auf die Entstehung der amerikanischen Naturschutzbewegung gefährde die romantische ‚Wildnis-Ideologie‘ letztlich einen nachhaltigen und verantwortungsbewussten Umgang mit der unmittelbaren Umwelt, die wir bewohnen und deren Teil wir unweigerlich sind. Die romantische Glorifizierung unberührter, ästhetisch ansprechender, imposanter Wildnis verwehre zum einen dem Menschen eine Verortung innerhalb der Natur und unterbinde entsprechende Gefühle von Verbundenheit und Verantwortung. Außerdem etabliere die romantische Faszination für erhabene, zumeist bergige Landschaften einen zu hohen Standard für das, was als ‚natürlich‘ und schützenswert gilt, und lenke die Aufmerksamkeit ab von weniger ansehnlichen, aber stärker gefährdeten Naturphänomenen und Ökosystemen.

Schlussfolgernd fordert Cronon, dass wir unsere Auffassung der zu beschützenden Andersartigkeit von Natur ausweiten sollen, um unserer gewohnten – natürlichen und zugleich kulturell geprägten – Umgebung mit Bewunderung, Erstaunen, Ehrfurcht und Respekt zu begegnen. Es gilt also, etwa mit Blick auf den gewöhnlichen Baum im eigenen Garten ein ‚sense of wonder‘ zu kultivieren. Ist dies aber nicht ganz im Sinne des oben zitierten Ausspruchs Henry David Thoreaus und, allgemeiner ausgedrückt, integraler Bestandteil eines romantischen Naturerlebens? Tatsächlich charakterisieren einige einschlägige Publikationen romantische Naturbeschreibung hinsichtlich ihres Vermögens, sowohl die Seltsamkeit als auch die Schönheit der alltäglichsten Naturphänomene zu offenbaren und Bewunderung für die gewohnte heimatliche Umgebung zu pflegen.

In seinem Buch Green Writing: Romanticism and Ecology (2000) verweist James C. McKusick explizit darauf, dass das Staunen über den Gartenbaum einen bekannten Topos romantischer Naturpoesie darstelle, dessen sich beispielsweise Samuel Taylor Coleridge bediente. Er beschuldigt Cronon, die Kenntnis dieses Strangs romantischer Naturbeschreibung bewusst unterschlagen zu haben, um seinen eigenen, vermeintlich postromantischen Ansatz innovativ erscheinen zu lassen. Eine solche Verleugnung romantischer Anleihen sowie die Abwertung und ‚Dämonisierung‘ romantischer Naturkonzeption diene nicht selten als Grundlage für die Behauptung eines differenzierten, zeitgemäßen und ökologisch fundierten Naturverständnisses. McKusicks Studie zielt darauf ab, diese ‚einseitige Karikatur des romantischen Erbes‘ zu revidieren und die Bedeutsamkeit der englischen Romantik und des amerikanischen Transzendentalismus für die Entwicklung modernen ökologischen Denkens herauszustellen.

Fest steht am Ende des Teilkapitels, dass das sogenannte grüne Vermächtnis der Romantik äußerst kontrovers und ideologisierend diskutiert wird. Die Debatten begleiten mich über meine Büro-Nische hinaus, insbesondere auf die täglichen Spaziergänge mit meiner Hündin. So frage ich mich etwa, wie romantisch mein Blick geprägt ist, der an den immer gleichen Standpunkten in die Ferne schweift und bei der Hügel- und Felssilhouette am Horizont verweilt. Welche kleinen Wunder entgehen mir auf meinen täglichen Streifzügen? Lassen sich Staunen und Bewunderung auch für den bescheidenen Strauch neben meinem Wohnblock kultivieren? Und würde mich dies in ein anderes Verhältnis zur Natur setzen, die gleichzeitig Zivilisation bedeutet und an meinem Hauseingang beginnt?