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Aus der Werkstatt des Kollegs, Teil 2 mit Caroline Rosenthal
Pandemien, Postapokalypsen und Romantik
Ich sitze zurzeit vor zwei Stapeln von Büchern. Einer besteht aus Titeln wie Living in the End Times, Legacies of the Plague, Illness as Metaphor, After the End und Risikogesellschaft. Der andere besteht aus postapokalyptischen Primärwerken wie Cormac McCarthys The Road, Margaret Atwoods Oryx and Crake, Claire Vaye Watkins Gold Fame Citrus, Edan Lepuckis California und Emily St. John Mandels Station Eleven. Mir offenbart sich eine düstere Welt und ich bin froh, dass draußen noch keine grauen Nebel wallen und bunte Blätter fallen, sondern der Spätsommer sich von seiner besten goldenen Seite zeigt und mich oft zu ausgedehnten Spaziergängen auf die Saalehorizontale hinauszieht.
Wer allerdings im grauen November mal in eine handfeste Depression abrutschen möchte, dem sei Cormac McCarthys wahrhaft trostloser Roman The Road ans Herz gelegt. McCarthy erzählt mit minimalistisch verknappten Darstellungsmitteln die Odyssee von einem Vater und seinem Sohn, die nach dem Untergang der Welt versuchen zu überleben. Die Gattung der Postapokalypse stellt immer ein Oxymoron dar, weil das Ende der Welt Anfang und Motor der Erzählung ist. Nicht so sehr das, was er erzählt, als vielmehr wie er erzählt, haben McCormac den Pulitzer Preis für den Roman eingebracht. In syntaktisch verkürzten Sätzen und einem Text, der weder Kapitel noch Abschnitte, sondern nur aneinandergereihte Absätze hat, imaginiert McCarthy eine Welt, aus der jede Farbe, jede Schönheit gewichen ist, in der nur noch das Recht des Stärkeren gilt und ein Vater seinen Sohn nur noch den Umgang mit der Entmenschlichung lehren kann. Das vermittelt McCarthy über die Sprache, die ebenso sparsam anmutet wie die Landschaft und das, was von den Errungenschaften der Zivilisation übriggeblieben ist. Die Art und Weise der Repräsentation ist tatsächlich bedrückend brillant. Damit sei der Roman auch denjenigen empfohlen, die novemberdepressionsresistent sind.
Warum lese ich diese Romane und was haben sie mit Romantik zu tun?
Im November bin ich zu zwei Tagungen eingeladen, die sich mit der Darstellung von Pandemien in der Literatur beschäftigen und mit der Rolle, die diese spielen kann, um Pandemien zu verstehen. Aus Corona wird also schon kulturwissenschaftlich Kapital geschlagen…
In seinem Buch Living in the End Times konstatiert der Philosoph Slavoj Zizek, dass wir in einer Zeit leben, die mehr denn je von drohenden Apokalypsen geprägt ist – Klimakatastrophe, Kollaps des globalen Kapitalismus –, deren Ausmaße wir nicht mehr begreifen können (Ulrich Beck hat das „Risikogesellschaft“ genannt). Im Zeitalter des Anthropozäns kennen wir alle die wissenschaftlichen Fakten und düsteren Prognosen bezüglich der Erderwärmung und wissen, dass der Kollaps des ökologischen Systems möglich ist. Und dennoch glauben wir nicht, dass er wirklich eintreten wird. Die Funktion postapokalyptischer Narrative liegt nun eben darin, die Lücke zwischen dem Wissen um die Katastrophe und deren Vorstellbarkeit zu schließen.
Postapokalyptische Romane entwerfen meist dystopische Szenarien, wie es nach dem Ende der Welt weitergehen könnte. Dabei zielen sie anders als die Apokalypse aber nicht auf eine mögliche neue Welt, sondern werfen vielmehr aus der Zukunft einen kritischen Blick auf die Vergangenheit, also auf unsere Gegenwart, um uns die möglichen Konsequenzen unseres Handelns vorzuführen.
Bei den zwei Symposien im November werde ich mich auf den 2015 erschienen Roman der Kanadiern Emily St. John Mandel konzentrieren, der in der deutschen Übersetzung den Titel Das Licht der letzten Tage trägt. Unschwer zu erkennen, dass auch er zur Gattung der postapokalyptischen Literatur gehört. Und doch ist der Roman ganz anders als der Rest in meinem Stapel. Zu Beginn breitet sich die Georgia Flu, ein mutiertes Virus der Schweinegrippe, in rasender Geschwindigkeit aus und wird 99% der Weltbevölkerung vernichten. Die Handlung wechselt zwischen Kapiteln, die vor der Katastrophe spielen und solchen, die 20 Jahre nach der Katastrophe stattfinden. Das ist der erste signifikante Unterschied zu anderen Romanen der Gattung, die meist den Zerfall der Gesellschaft direkt nach der Katastrophe abbilden. Mandel erzählt stattdessen, was passiert, wenn die Katastrophe zur Normalität geworden ist und es bereits eine Generation gibt, welche die alte Welt nicht mehr kennt. Zentral im Roman ist das Erinnern und dessen Bedeutung für Kulturen. Der Ton ist elegisch. Mandel betrauert den Verlust von Strukturen, die uns selbstverständlich sind: Elektrizität, Mobilität, Digitalisierung, medizinische Versorgung sowie den Verlust alltäglicher Dinge. Diese Objekte beginnt einer der Überlebenden in der ersten Dekade nach der Katastrophe in einem Museum of Civilization zu sammeln: Kreditkarten, mit denen nichts mehr bezahlt werden kann, Pässe, die in einer Welt ohne Länder und Grenzen und mit eingeschränkter Mobilität sinnlos geworden sind. Handys und Computer, die nach Zusammenbruch der Elektrizität und des Worldwide Web keine Funktion mehr haben. Die Zivilisation ist nun etwas Vergangenes, das ins kulturelle Gedächtnis eingeht und alltägliche Objekte erhalten den Status von Kunst- und Erinnerungsobjekten. Während in anderen postapokalyptischen Romanen Objekte oft eine Rolle spielen, weil sie eine neue überlebenswichtige Funktion haben, werden sie bei Mandel wichtig als sinnstiftende Objekte, über die eine neue Gemeinschaft sich aus der Vergangenheit imaginiert.
Am Ende des Romans taucht in der Ferne eine elektrisch erleuchtete Straße auf und damit die Hoffnung auf eine neue Zivilisation. Mandel ist dafür gescholten worden, dass sie die Technisierung unserer Welt, die schlussendlich zur Klimakrise führe, nicht infrage stelle, sondern diese gar feiere.
Vielleicht bin ich nun einfach schon zu lang in unserem Kolleg und quasi romantisch verblendet, aber für mich entdeckt Mandel in den nun verloren gegangenen Dingen und Strukturen einen Zauber. Darin lässt sich unschwer ein romantischer Gestus erkennen, der dem Gewöhnlichen das Ungewöhnliche entlocken und entdecken will. Fast scheint es, als wolle Mandel die von Max Weber beschworene Entzauberung der Welt rückgängig machen, allerdings ohne die Errungenschaften der Moderne aufzugeben oder zu idealisieren. Vielmehr soll die neue Zivilisation wohl beides zusammenführen, moderne Dinge und ein Wissen um deren Zauber. Eine Botschaft des Romans ist, dass Kunst und Erinnerung das Wesen von Kultur ausmachen und den Kollaps überdauern. Nach endlosen Romanen über Menschen, die nach der Katastrophe zu Kannibalen werden in einer Welt, die jeder Solidarität und Empathie beraubt ist, wirkt das wohltuend.
Für den grauen November und unser Kolleg dann vielleicht doch die geeignetere Lektüre…