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Alltag anders bei Hendrick Heimböckel
Endlich nicht mehr pendeln. Endlich nicht mehr darüber nachdenken, was in den Rucksack soll und wann der Zug kommt. Bis zum Balkon ist’s nicht weit und auch ein Hügel mit Ausblick auf das frühlingshafte Jena befindet sich in nächster Nähe. Das ist toll!
Quarantäne, lockdown und social distancing verheißen einem jungen wissenschaftlichen Arbeiter in der deutschen Provinz, der nicht die staatliche Fürsorge für seine Kinder übernehmen, nicht um seine Stelle fürchten, keinesfalls Angst vor leeren Supermarktregalen haben muss und der sowohl in Lichtgeschwindigkeit Massen an Daten verschicken kann als auch über die antiquierten Mittel der Stimme, des Stifts und des Papiers verfügt: einen Fokus auf’s Wesentliche.
Selbstorganisiertes Lernen, der didaktische Traum für diejenigen, die es lernen durften und die Möglichkeit haben, ihn umzusetzen. Wäre da nicht die Umstellung auf einen neuen beruflichen Alltag. Doch was beschwere ich mich? Diese Situation wurde schon 2017 in dem öffentlich zugänglichen Strategiepapier der Kultusministerkonferenz zur digitalen Bildung als status quo markiert: „Nach ihrer schulischen oder beruflichen Ausbildung treffen junge Menschen auf ein digital geprägtes berufliches Umfeld, das einen permanenten Anpassungsdruck in Bezug auf das eigene Können und die erworbenen Kompetenzen erzeugt.“
Was hilft mir, einem Lehrenden an der Hochschule, und Menschen in sehr vielen anderen Berufen, unsere digitale Fitness angesichts des spontan hochschnellenden Anpassungsdrucks zu erhöhen? Lösungsorientierung! Pragmatismus! Flexibilität und Kreativität! Das sind in der gegenwärtigen Situation – und sicherlich auch in der darauffolgenden „Normalität“ – breitenwirksame Schlüsselkompetenzen.
Folglich wird das Studium an den Hochschulen in Räumen fortgesetzt, die die meisten ihrer Angestellten, abgesehen von einer digitalen Avantgarde und ihren Lehrlingen, in ihrer beruflichen Praxis bisher nur als die dünnen Seitenarme eines Mainstreams kennengelernt haben: in virtuellen Räumen. Welch Glück, dass in solchen Fällen auch die deutschen Bildungsinstitutionen ihre Argusaugen hinsichtlich Datenschutz, Bürokratie und Curricula zudrücken.
Ich weiß nicht, womit ich mehr Schwierigkeiten habe, mit der sogenannten „Normalität“ oder mit dem Ausnahmezustand. In jedem Fall drängt sich mir stärker als sonst das Empfinden auf, dass Vieles anstrengend, widersinnig und falsch ist: Es ist anstrengend, die Infrastrukturen der Universität zu Hause nachzubilden und dabei die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem neu auszutarieren. Es ist widersinnig, angehende Lehrer*innen für ihre schulpraktischen Erfahrungen einen simulierenden Ersatz anzubieten. Und es ist falsch, sich über die Einschränkung der Freiheit zu beschweren, die sie ermöglicht.
Doch staune ich, ja bin zugleich erschrocken und freue mich darüber, wie schnell sich neue Spielräume geöffnet und Routinen eingespielt haben. Wann wäre es anders gewesen? Oder umgekehrt gefragt:
Wie lange dauert „normal“?