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Samstag, 27. Februar 2016

Abbild und Original. Eine Reise durch Mittel(deutsch)land

Wo liegt eigentlich ‚Mittelerde‘?“, mag man sich bei der Lektüre von J. R. R. Tolkiens Werk Der Herr der Ringe womöglich schon manchmal gefragt haben. Ist es ein Ort, den ausschließlich unsere Fantasie anhand von Worten und Sätzen zu kreieren vermag und den es außerhalb von Filmen und Texten somit gar nicht gibt? Oder handelt es sich dabei eher um eine Landschaft, die jenseits unserer Einbildungskraft tatsächlich existiert – und sei es eben als reales Analogon oder gar als Vorbild für die fantastischen Welten im Buch?

Nach dem Besuch der Ausstellung „Romantische Landschaften. Paul Raymond Gregory und der Herr der Ringe“, welche am 10. Dezember 2015 eröffnet worden ist und noch bis zum 17. April 2016 in den Räumen des Kunstvereins Talstrasse e. V. in Halle (Saale) besichtigt werden kann, muss eine – vermutlich eher überraschende – Antwort auf die eingangs aufgeworfene Frage jedenfalls lauten: „Mittelerde“ gibt es wirklich und es liegt mitten in Deutschland. Präziser gefasst: Zwischen dem Brocken und der Saale, zwischen dem Harz und Halle. Dieser Eindruck kann zumindest beim Betrachten der in der Ausstellung gezeigten Kunstwerke gewonnen werden. Dabei handelt es sich einerseits um die Arbeiten des britischen Künstlers Paul R. Gregory, der sich v. a. seit den späten 1970er Jahren intensiv mit den geheimnisvollen und magischen Welten befasst hat, von denen man bei Tolkien lesen kann. Und andererseits um die Gemälde und Zeichnungen verschiedener Künstler, die sich mit ganz unterschiedlichen Bildmotiven auseinandergesetzt haben, die sie v. a. im mitteldeutschen Raum vorfanden: Beispielsweise die Wälder und Felsen im Harz bei Georg Heinrich Crola, verfallene Gemäuer bei Carl Hasenpflug sowie die Burg Giebichenstein um 1820 in einer Arbeit von Johann Christian Reinhardt.

Ungeachtet aller Unterschiede, die sich im Detail bei den jeweils gezeigten Werken herausarbeiten lassen (hingewiesen sei beispielsweise auf die von Gregory individuell zu jedem Gemälde gestalteten, ungewöhnlichen Bilderrahmen), können doch ebenso interessante Zusammenhänge geknüpft werden. Insbesondere jener Giebichenstein, von dem einst Joseph von Eichendorff in einem Gedicht „Bei Halle“ zu dichten wusste „Da hab ich so oft gestanden,/ Es blühten Täler und Höhn,/ Und seitdem in allen Landen/ Sah ich nimmer die Welt so schön!“, kann als metaphorischer Dreh- und Angelpunkt der Ausstellung begriffen werden.

So sind Burgen nicht nur expliziter Gegenstand in einigen gezeigten Arbeiten (Dix, Gregory, Hasenpflug, Reinhardt, von Kalckreuth), sondern es befindet sich mit dem Giebichenstein auch in unmittelbarer Nähe zum Ausstellungsort selbst eine haptisch greifbare Feste. Das heißt, ab- und nachgebildet wird die Burg auf der einen Seite der Saale, begeh- und erfahrbar (als Original) auf der anderen. Während sich diese Zuordnung – Original hier, Abbild dort – noch recht plausibel am skizzierten Sinnbild einer mittelalterlichen Burg fassen lässt, wird sie beim Betrachten der Gemälde von Gregory schon problematischer. Insbesondere dann, wenn man die Filme zu den Der Herr der Ringe-Büchern kennt, muss man sich immer wieder ins Bewusstsein rufen, dass die Kunstwerke vor den Filmen da waren – auch wenn man zuweilen finden möchte, dass es doch wohl andersherum gewesen sei. Der Grund hierfür dürfte darin zu sehen sein, dass die eindeutige Zuschreibung von Abbild und Original beim Anschauen der Bilder verschwimmt. Zwar wird man definitiv sagen können, dass das Buch doch die Vorlage für die Filme und Gemälde war, aber man kann erst qua Kontextwissen sagen, wie filmisches und gemaltes Bild sich zueinander verhalten. Der Vertrautheits-Effekt jedenfalls („Das sieht doch so aus wie im Film!“) lässt sich noch auf eine andere Betrachtungsebene transformieren. Schaut man sich, so wie von den KuratorInnen offensichtlich bewusst intendiert, die Bilder von Gregory im direkten Vergleich zu den Arbeiten der anderen Künstler an, dann wird auf faszinierende Weise ersichtlich, dass „Mittelerde“ uns allen näher ist, als bislang vermutlich angenommen. Um entsprechend im Bilde zu bleiben: Sowohl die Burg Giebichenstein in der Federzeichnung von Reinhardt als auch die „Minas Tirith“ im Gemälde bei Gregory sind auf Felsgestein gebaut. Damit soll nicht behauptet werden, dass die Burgen sich gleichen würden, aber doch kommen einem die gewählten Bildgegenstände wiederum sehr vertraut vor. Diesmal nicht primär aus Filmen, sondern aus Reisen durch Mittel(deutsch)land: Durch Wanderungen im Harz, Spaziergängen an der Saale und generell anhand von Streifzügen in der sachsen-anhaltinischen Landschaft.

Mag das Original für Gregorys Bilder auch nicht aus den natürlichen und kulturellen Gegebenheiten stammen, wie man sie in Sachsen-Anhalt noch heute größtenteils vorfinden kann, so evoziert sich diese Sicht auf die Kunstwerke doch unweigerlich. Alle gezeigten Bilder regen somit intensiv dazu an, ein freies Spiel mit der eigenen Einbildungskraft zu entfalten. Das maßgeblich dadurch in Gang gesetzt wird, indem die Bilder jeweils konkrete Aspekte (Ruinen, Flüsse, Menschen etc.) zu zeigen wie gleichzeitig andere Bildbestandteile zu verbergen wissen. So ist in Gregorys Bild „Dragons Lair“ eindeutig ein Drache in einer felsigen Höhle zu sehen, was man jedoch nicht sieht, ist, was sich außerhalb der Gesteinsbehausung befindet. Zu identifizieren ist lediglich ein verschwommenes, leuchtendes Blau, von dem man annehmen kann, dass es sich dabei möglicherweise um Wolken handelt, die Berge verdecken oder eine dahinter liegende Stadt – oder vielleicht auch etwas gänzlich anderes verhüllen. Die gleiche Erfahrung bei der Bildbetrachtung macht man, wenn man sich z. B. dem Ölgemälde „Das Bodetal“ von Hasenpflug zuwendet. Zu sehen ist darauf ein von einem Fluss durchschnittenes Tal, zu dessen Seiten sich hohe, dunkle Felsen auftürmen. Die Bildmitte ist demgegenüber abermals von einem hellen Blauton eingefasst, der einen blassen Horizont erahnen lässt und die Frage aufwirft: Was liegt wohl dahinter? Gemeinsam ist den Bildern somit nicht nur ein kippfigurenhaftes Operieren zwischen (vordergründiger) Verdeutlichung und (hintergründiger) Verschleierung, sondern mindestens ebenso eine dadurch ausgelöste tiefe Sehnsucht, zu erfahren, was dort – in all dem Blau – tatsächlich ist.

Dies so sehen und erfahren zu können, darin liegt der besondere Reiz der Ausstellung, deren Besuch man unbedingt mit einer Erkundung des näheren und weiteren Galerieumfeldes ergänzen sollte – wobei eine Stippvisite im Reichardts Garten (der „Herberge der Romantik“) nicht fehlen darf. Erst dadurch wird nämlich erlebbar, wo die Inspirationsquellen des pittoresken Zaubers wirklich anzutreffen sind: oftmals vor der eigenen Haustür.

verfasst von Daniel Grummt