Neuansatz: Modell Romantik
Diversität der Gegenstände
Interdisziplinarität des Kollegs
Was ist ein Modell?
Zu den Aufgaben des Kollegs gehörte es, einen für das Forschungsfeld tragfähigen Modellbegriff zu entwickeln. Die Auswertung wissenschaftstheoretischer Lexika ergab eine Übereinstimmung darin, Modelle als idealisierende Nachbildungen eines konkreten Objekts oder Systems zu verstehen, die diese auf als wesentlich erachtete Eigenschaften reduzieren. Aktuelle enzyklopädische Definitionen referieren wie viele Vertreter der sich gegenwärtig mit ‚Modellen‘ beschäftigenden Wissenschaften (Logik und Informatik, Wissenschaftstheorie, Psychologie, Ökonomie, Philosophie, vgl. Suárez 2009, Morgan/Morrison 1999, Dutke 1993, Mahr 2003, Gil 2008) auf die „Allgemeine Modelltheorie“ des Mathematikers/Philosophen Herbert Stachowiak (1973). Er versteht unter einem Modell eine Repräsentation der Realität, die das abgebildete Original verkürzt und subjektiviert: „Modelle sind immer Modelle von etwas, Abbildungen, Repräsentationen natürlicher oder künstlicher Originale (die selbst wieder Modelle sein können). Aber sie umfassen im Allgemeinen nicht alle Originalattribute, sondern stets nur solche, die für die Modellbildner und/oder Modellverwender relevant sind. Modelle sind mithin ihren Originalen nicht per se zugeordnet; sie erfüllen ihre Ersetzungsfunktion stets a) für bestimmte Erkenntnis- und/oder Aktionssubjekte, b) innerhalb bestimmter Zeitintervalle und c) relativ zu bestimmten Zwecken und Zielen, denen die Modellbildung und die Modelloperationen unterliegen“ (Stachowiak 1980, 29). Stachowiaks Theorie bietet einen Anschluss für die Analyse von Rezeptions-prozessen und den Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit neueren modelltheoretischen Positionen, die den von ihm unterstellten Abbildungscharakter von Modellen in Frage stellen und sich eingehend mit deren Realitätsgehalt beschäftigen.
Knuuttila (2005), Gil (2008) und Abel (2008) betonen das konstruktivistische Moment von Modellen, die diesen Positionen zufolge nicht nur durch Abstraktion von Beobachtungen entstünden, sondern auch durch ihnen inhärente Vorannahmen und Hypothesen. In einem Modell werden demnach Strukturen dargestellt, die auf die Realität rekurrieren, zugleich aber durch den Modellbildungsprozess erst in dieser Form entstehen. Eine für das Graduiertenkolleg wichtige Forschungsrichtung fragt nicht allein nach dem Verhältnis von ‚Original‘ und ‚Modell‘, sondern bezieht die ‚Wirkung‘ oder ‚Anwendung‘ von Modellen mit ein. Der Informatiker und Wissenschaftstheoretiker Bernd Mahr zielt in einer seit den 2000er-Jahren publizierten Reihe von Aufsätzen auf die Entwicklung einer neuen allgemeinen Modelltheorie (siehe Mahr 2003, 2004, 2008, 2015). Für ihn steht jedes Modell in zwei wesentlichen Relationen: Zum einen ist es Ergebnis eines induktiven Prozesses, der seinen Ausgangspunkt in einem Ursprungssystem (Matrix) nimmt. Zum anderen ist jedes Modell Referenzpunkt für Realisierungen und Anwendungen (Applikate) und hat damit eine deduktive Komponente. Dieser Ansatz hilft, das Verständnis wirkungs- und rezeptionsgeschichtlicher Vorgänge zu befördern und das für die Fortdauer von ‚Romantik‘ entscheidende Ineinander von Kontinuität und Variation ebenso zu erklären wie die historischen Bedingungen zu berücksichtigen, unter denen Romantik reformuliert wird.
Unser konzeptuelles Modell
Die Wissenschaftler_innen des Kollegs arbeiten auf einer vermittelnden Ebene: Sie untersuchen zum einen die Vielfalt der abstrahierenden, selegierenden Vorstellungen von Romantik. Und sie bieten zum anderen selbst ein wissenschaftlich fundiertes ‚Modell Romantik‘ an, das durch die Konzentration auf ein distinktes Merkmalsbündel der interdisziplinären Auseinandersetzungen eine gemeinsame Grundlage verschafft. Wir formulieren vor diesem Hintergrund folgende Hypothesen: Den Problemhorizont der historischen Romantik bilden die mit Beginn der Neuzeit einsetzenden und in der Sattelzeit um 1800 erstmals kulminierenden Prozesse der Modernisierung. Romantische Autor_innen wissen um die Entwertung essentialistischer Aussagen über Gott, das Ganze von Natur und menschlicher Ordnung und erkennen die weltkonstituierende Leistung von Subjektivität und Sprache. Sie vollziehen Dezentrierungsbewegungen der Moderne mit. Zugleich verteidigen sie das Bedürfnis, die Welt nicht nur als Gesamtheit naturwissenschaftlich beschreibbarer Zustände und Ereignisse oder konkurrierender sozialer und kultureller Praktiken zu verstehen, sondern als eine sinnvolle Ganzheit. Sie unterbreiten universalistische Angebote. Eine an Luhmanns Soziologie anschließende Literaturwissenschaft begreift Romantik als diejenige Kommunikations- und Diskursstrategie, die gegen die Funktionsdifferenzierung an einer sinnstiftenden Einheitssemantik festhält. Christoph Reinfandt spricht von einer „kompensatorische(n) Fort- bzw. Umschreibung durchtradierter Einheitssemantiken […] unter neuen Bedingungen“, Christoph Bode von einer „Integration der nun funktional desintegrierten Teilgebiete menschlicher Existenz“ (Reinfandt 2003, 56f., Bode 2010, 91). Diese Diagnose trifft sich partiell mit der von Charles Taylor vertretenen Position, nach der Romantik bei fortschreitendem Verbindlichkeitsverlust der Kirchen und Konfessionen als „komplementäre Großleistung“ gilt, die eine „verlorengegangene Einheit“ der voraufklärerischen Glaubensgemeinschaft durch sprachlich-künstlerische Sinnstiftung kompensiert (Taylor 2009, 630).
Uns kommt es auf die innere Gegenläufigkeit der Romantik an, auf die gleichzeitige „Anerkennung und Synthetisierung der Diversität“ (Reinfandt 2003, 43). Die beteiligten Wissenschaftler_innen gehen davon aus, dass die Spannung von holistischen Sinnentwürfen und modernem Kontingenzbewusstsein ein wesentliches Merkmal der Romantik ist und zu ihrer Anschlussfähigkeit, ihrer fortgesetzten Produktivität und Vorbildwirkung beiträgt. Denn die doppelte Ausrichtung ermöglicht ästhetische Strukturen und Denkfiguren, die dem weltanschaulichen Holismus ebenso zu entsprechen versuchen wie den Fragmentierungs- und Relativierungsbewegungen der Moderne. Es werden Ganzheitsaussagen formuliert und gleichzeitig zurückgenommen. Es wird Lebenssinn entworfen und als subjektiv ‚gemacht‘ ausgewiesen. Es wird Menschheitsuniversalität mit Individualität vermittelt. Ambivalent bleibt, welcher Status der romantischen Einheits- und Sinnstiftungssemantik zukommt: Da sie die Selbstreflexion auf ihren regulativen Charakter enthält, wird sie zur Kippfigur zwischen Behauptung und Widerruf. Genau hierin liegt – so nehmen wir an – das modellbildende Potenzial der Romantik.
Literaturnachweise
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- Bode, Christoph (2010): Romantik – Europäische Antwort auf die Herausforderung der Moderne? Versuch einer Rekonzeptualisierung, in: Anja Ernst/Paul Geyer (Hg.): Die Romantik: Ein Gründungsmythos der europäischen Moderne, Göttingen, S. 85-96.
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